Alter und Altwerden

M. Seithe
Ton, 2017

Eine Sendung im Rundfunk zum Thema Alt sein.: Dazugeschaltete Menschen ab 70 werden befragt, wie sie das Alter meistern.
Voller Stauen höre ich Frauen wie Männer die Vorzüge des Alters preisen und sich rühmen, trotz ihres Alters noch die Welt auf den Kopf zu stellen. Die eine macht Reisen rund um den Globus, der andere hat sich an der Universität eingeschrieben, um Biologie zu studieren, die nächste schwärmt von der Lebens weckenden Kraft, die das Großeltern-Dasein mit sich bringe. Alle finden es wunderbar, endlich tun und lassen zu können, was sie wollen. Untersuchungen hätten gezeigt, so die Moderatorin, dass 70% aller alten Menschen ihr Leben positiv sehen und es genießen.

Empfehlungen für ein glückliches Alter werden den Hörern und Hörerinnen ans Herz gelegt: Tanzen, im Chor singen, etwa ganz Neues lernen, ein Ehrenamt übernehmen …

Nur einmal meint einer der am Tisch Diskutierenden schüchtern, es gäbe ja wohl auch sowas wie Altersarmut, und Krankheiten, Einsamkeit, … Ja, sicher, ein wenig Geld bräuchte man schon. Aber wer einsam sei, der wäre selbst schuld, antworten die zugeschalteten Personen unisono.

Ich bin nicht arm. Ich bin auch nicht wirklich einsam. Und meine Krankheiten sind zumindest alle nicht lebensgefährlich.
Und dennoch leide ich an meinem Alter. Vor ein paar Jahren habe ich noch behauptet, ich fühlte mich eigentlich immer noch wie 30 oder 40, sähe halt nur nicht mehr so aus. Heute fühle ich mich wie 70, manchmal fast wie 80. Inzwischen kann ich tagtäglich beobachten, wie meine körperlichen und leider auch geistigen Kräfte mich Schritt für Schritt verlassen.

Mit den Augen fing es an vor 20, 30 Jahren. Langsam verließ mich die eine und die andere Fähigkeit. Inzwischen bin ich so schwach, dass mir ständig alles aus der Hand fällt und ich nicht einmal mehr eine Mineralwasserflasche aufdrehen kann. Hören kann ich noch ganz gut. Aber ich ertrage laute Geräusche nicht mehr. Wenn viele Menschen sich in meiner Umgebung unterhalten, möchte ich am liebsten weglaufen. Laute Musik muss ich meiden. Meine Augen sind müde. Das Lesen fällt mir immer schwerer. Lesen im Bett, das ist schon lange nicht mehr drin. Ich lebe mit einer beginnenden Inkontinenz, überall entstehen Alterswarze. Ich hatte lange keine Falten, jetzt sind sie da. Die Skoliose am Rücken geht nicht wieder weg. Allmählich kann ich nachfühlen, wieso alte Frauen früher für Hexen gehalten wurden.

Dazu bin ich quasi unsichtbar geworden. Männer nehmen mich nicht mehr war. Vielleicht schützt mich das davor, doch noch einmal vergewaltigt zu werden. Treppen gehe ich mit Schnaufen und Schwindelanfällen. Nach einer halben Stunde laufen, werden meine Knie weich.
Meine Stimme ist leise geworden. Niemand hört mich mehr und selbst wenn ich versuche, laut zu reden, sagen alle, ich spräche immer noch leise. Alle meine Probleme, die ich als Kind hatte, kehren zurück und werfen mich um. Was ich als Erwachsene gelernt hatte, was ich konnte, wer ich war, das alles ist verblasst und auf jeden Fall völlig veraltet und uninteressant.

Erinnerungen
alte Frau und ihre Erinnerungen
Ton, M. Seithe, 2018

Meine Ärzte lächeln insgeheim über mich. Wieso die Alte noch immer glaubt, sie könnte wieder so jung und gesund werden, wie sie früher war. Ab 70 kann man keinen Arzt mehr dazu bringen, ernsthaft darüber nachzudenken, was einem fehlt. Man ist halt alt. „Rückenschmerzen haben wir doch alle.“ An meinem 70. Geburtstag kam ein Brief von der Mammografie-Stelle. Man machte mich auf mein Recht aufmerksam, jährlich an einer Mammografie-Untersuchung teilzunehmen. Diese Recht stehe mir zu bis zum 70. Lebensjahr.

Natürlich, ich habe meine Freiheit. Aber so recht weiß ich nicht mehr, was ich damit anfangen soll. Ich schreibe Romane, gestalte Plastiken aus Ton, spiele Flöte, habe einen Garten, einen Hund, eine Katze. Ich bin politisch interessiert und engagiert. Ich habe drei erwachsene Kinder, einen, den dritten Ehemann …
Aber ich habe eigentlich keine Lust mehr auf das Leben. Was ich tue, hat kein Ziel. Es gelingt mir nicht, etwas zu tun, einfach weil ich es gerne tue. Und da es niemanden mehr interessiert, verliere ich die Freude daran.
Die Frage, die jene glücklichen Alten empfahlen, reicht nicht, mich zu motivieren. „Was will ich noch erleben und hinkriegen?“ Die Antwort würde das Einverständnis bedeuten, meinem Vergehen zuzusehen.
Meine Jüngste ist schwanger. Ich war nie scharf darauf, Oma zu werden. Aber vielleicht hilft mir das. Denn Oma ist wenigstens eine Rolle, die man erst bekommen kann, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat.