Kreuzfahrt, die 5. – Station Tallinn (Estland)

Die Kreuzfahrt stand unter dem Motto „Rendevouz mit der Geschichte“, das konnte einiges bedeuten. Auf alle Fälle versprach sie mir den ersten Kontakt mit vier großen Städten, am Baltischen Meer, die alle in der Geschichte eine bedeutende Rolle gespielt haben und heute – bis auf St. Petersburg – Hauptstädte sind.
Ich war gespannt, wie dieses Rendevouz aussehen, vor allem welche Geschichte uns präsentiert werden würde .

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Unser erster Landgang war in Tallinn, mir bis dahin und vielleicht auch anderen nur bekannt unter dem Namen Reval.

Tallinn ist die Hauptstadt der 1992 gegründeten Republik Estland. Hier leben ca. 400 000 Einwohner, das sind etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung des Landes. Das Volk stammt ursprünglich aus der Wolgagegend, ist ca. 600 nach Chr. von dort eingewandert. Die estnische Sprache ist keine indogermaische Sprache und mit dem Finnischen und entfernt mit dem Ungarischen verwandt. Mit den beiden anderen baltischen Ländern Lettland und Litauen gibt es weder sprachlich noch ethnisch wesentliche Verbindungen.
44 % der Fläche des Landes sind mit Wald bedeckt, was Holz zum zentralen Wirtschaftfaktor macht. Das Land hat über 1000 zum Teil kleine Flüsse und 1500 Seen.
Die Gründung von Tallin geht ins frühe Mittelalter zurück.

Estland stand über viele Jahrhunderte hinweg unter Fremdherrschaft oder unter fremder Verwaltung (Deutscher Ritterorden, Schweden, Russen, Dänen, Nazideutschland und die Sowjetunion). Die Deutschen waren in der Oberschicht des Landes lange stark vertreten. Zur Zeit der sowjetischen Verwaltung wurden verstärkt Russen in Estland angesiedelt.
Die Gründung ihrer jungen Republik erfüllt die Esten ganz offensichtlich mit Stolz. Auch unsere Reiseleiterin sprühte vor Stolz und Engagement für ihr Land.

Estland ist inzwischen EU-Mitglied und auch NATO-Mitglied. Der neue Staat wurde nach skandinavischem Vorbild mit wenig Hierarchien aufgebaut. Estland ist eine parlamentarische Demokratie. (Die Wahlbeteiligung für das erste Parlament, entnehme ich Wikipedia, betrug allerdings unter 30%). Estland gilt als moderner und aufgeklärter Staat. Z.B. besteht ein Rechtsanspruch auf einen kostenlosen Internetzugang für jedermann. (Mein Sohn allerdings machte mich gestern darauf aufmerksam, dass vor kurzem heftige Pöbeleien gegen Homosexuelle in Tallin vorgefallen sind!)
Wirtschaftlich entschied sich die Regierung des Landes für einen neoliberalen Kurs. Derzeit arbeitet man gegen die hohe Inflationsrate an, stramm dem Euro entgegen.
Bis dahin werden die Touristen mit ihren Euros noch mächtig abkassiert und übers Ohr gehauen, wie wir am eigenen Leibe erfahren konnten.
Die Arbeitslosenquote liegt nur bei 2 oder 3 Prozent. Man überlegt, ob man aus Bulgarien Arbeitskräfte ins Land holen soll. Im Ostteil Tallinns besteht eine deutlich höhere Arbeitslosigkeit, aber die Verkehrsanbindungen sind so schlecht, dass die Leute von dort nicht nach Tallin kommen können, wurde uns erzählt.

Vom Hafen aus präsentierte sich Tallinn, eine ehemalige Hansestadt einladend und malerisch.
Unser 2 stündiger Gang durch die bemerkenswert grüne, touristisch herausgeputzte aber nicht aufdringlich gestaltete mittelalterliche Oberstadt und die neuere Altstadt brachte uns Anblicke hübscher Häuser und prächtiger bürgerlicher Gildegebäude. Unsere kleine Gruppe Nr. 10 lauschte den Ausführungen der gut deutsch sprechenden Fremdführerin, die interessant erzählen konnte, uns viel über Estland und seine Hauptstadt vermittelte und uns einen relativ stressfreien Vormittag ermöglichte, der mit einer halbstündigen Rast am Rathausplatz endete, wo wir uns individuell umschauen konnten. Bis auf ein paar Regentropfen am Beginn des Rundgangs spielte auch das Wetter mit.

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Ich wußte von Estland nichts. Fast nichts:
Unser Holzhaus auf der Streusandbüchse ist ein estisches Haus und wurde von estischen Arbeitern errichtet.
Dann ging vor einigen Monaten die Sache mit dem sowjetischen Kriegerdenkmal in Tallinn durch die Presse, wo eine Reihe von sowjetischen Kriegsgräbern mitsamt dem Denkmal der antifaschitischen Befreiung aus einem kleinen Park der Innenstadt auf einen außerhalb liegenden Soldatenfriedhof verbannt worden war – begleitet von Protesten der russischen Bevölkerung.

Das alles machte mich neugierig.

68% der Bevölkerung ist estnisch. 26% sind Russen.
Ich fragte unsere Reiseführerin, wie sich denn die große russische Minderheit in Estland fühle. Sie antwortete sehr ausweichend. Sie meinte, den Russen passe es nicht, dass Estnisch die Verkehrssprache sei. Ansonsten wollte sie sich über dieses Thema nicht äußern.

Im Wikipedia steht zu lesen: „Trotz zahlreicher staatlicher Programme ist es noch nicht gelungen, die in der Zeit der Sowjetunion zugewanderten bzw. gezielt angesiedelten Einwohner nicht-estnischer Nationalität vollständig zu integrieren. Es gibt sogar Russen, die ihre Familiennamen geändert haben, in der Hoffnung, bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Im Durchschnitt verfügen die Esten im Vergleich zu der russischsprachigen Minderheit über ein höheres Einkommen. Esten sind vor allem in Leitungspositionen anzutreffen, Russen eher im Dienstleistungs- und Produktionsbereich. Mittlerweile lassen sich zahlreiche Ausländer einbürgern. Das Einbürgerungsverfahren ist jedoch mit einem Sprachtest verbunden, den viele vor allem ältere Russen als unzumutbar und schwierig empfinden. Teilweise lehnen sie es aus Nationalstolz auch ab, Estnisch zu lernen. Jüngere Russen beherrschen vielfach estnisch und tun sich mit den Aufnahmekriterien leichter. In letzter Zeit bringen Russen vermehrt ihre Kinder in die estnischen Kindergärten und Schulen, um ihnen eine bessere Integration zu ermöglichen.“

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Als wir an dem Park des ehemaligen antifaschistischen Denkmals mit dem Bus vorbeifuhren, erzählte sie von dem Ereignis. In ihren Augen hatten ein paar verrückte Jugendliche mit roten Fahnen herumgewedelt. Aber das Ärgernis sei jetzt beseitigt.
In der Oberstadt führte sie uns vor eine Gedenktafel, auf der ca. 50 Namen (ein Fünftel davon deutsche Namen) von estnischen Bürgern vermerkt sind, die unter der Sowjetischen Oberherrschaft nach Sibirien transportiert wurden. Sie spricht vom „kommunistischen Terror“.

Nein, sie liebt die Russen nicht. Als Leute aus der Gruppe etwas zu einer orthodoxen Kirche fragen, macht sie die Bemerkung, wie hübsch der Platz sein würde, wenn man diese Kirche abreißen könnte….
Je länger ich ihr zuhörte, desto mehr bekam ich den Eindruck, dass sich bei ihr und vielleicht bei vielen Esten der Nationalstolz und die Wut auf jede Fremdherrschaft mit dem Antikommunismus aufs Engste verbunden hat. Russisch, sowjetisch und kommunistisch wurden gleichgesetzt und waren vor allem eins: eine Unterdrückung des estnischen Volkes.
Die Jahre der Besetzung durch Hitlerdeutschland waren für sie keine Erwähnung wert. Was in dieser Zeit mit den estnischen Juden geschehen ist, kam nicht zur Sprache.
Die antifaschistische Befreiung war für sie keine Befreiung sondern die Ablösung einer Fremdherrschaft durch eine andere, noch weniger geliebte.
Die Entfernung des Denkmals war für sie die Verbannung eines verhassten Herrschaftsanspruches der Russen. Dass die Esten damit gleichzeitig die Rolle der roten Armee als die Befreierin von einer faschistischen Okupation nicht nur in ihrer historischen Bedeutung geleugnet sondern wahrscheinlich ganz aus ihrer Geschichtswahrnehmung verbannt haben, war für sie kein Thema.

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Eine Antwort zu Kreuzfahrt, die 5. – Station Tallinn (Estland)

  1. Frank Walter sagt:

    Hallo,

    also Estland ist wirklich wunschön. Besonders im Sommer. Aber auch im Winter. Egal ob Westen, Osten oder Norden. Estland kann viel bieten. Familien und Gruppen kann ich empfehlen ein Ferienhaus zu mieten. Gute Häuser gibt es unter:
    http://www.ferienhaeuser-estland.de

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