Die Frage danach, wie es damals war, als sich in Deutschland der Nationalsozialismus etablierte, lässt mich nicht los. Meine beiden Eltern waren in dieser Zeit Jugendliche und engagierten sich beide in der katholischen Jugend ihrer Heimatstädte Gelsenkirchen und Dresden. Sie waren in diesem Kontext bis zum Kriegsende mehr oder weniger aktiv im Widerstand. Davon haben sie mir viel erzählt.
Widerständige Jugendbewegung im Nationalsozialismus
Ein Lied war mir eingefallen, das meine Mutter oft gesungen hat und das in ihrer Jugend eine große Rolle gespielt haben muss: „Strom der Schwere“, hieß dieses Lied, eine Hymne an den Fluss Elbe. Ich fand das als Kind immer merkwürdig, denn sonst wurde doch immer nur der Vater Rhein besungen. Niemand außer mir kannte dieses Lied in meinen Kreisen und ihm haftete für mich immer der Geruch von etwas Verbotenem oder Geheimnisvollen an. War das ein Lied der widerständigen Jugend in der Hitlerzeit, fragte ich mich jetzt. Haben meine Eltern dieses Lied deshalb geliebt? Mir selbst kam es – wegen des, wie ich es empfand schwülstigen Textes – eher ein wenig kitschig vor.
Google klärte mich auf:
Das Elbelied „Strom der Schwere“ galt tatsächlich als Erkennungszeichen verfolgter bündischer Gruppen im Dritten Reich, z. B. der sogenannten Südlegion. Dieser Jungenbund Südlegion war damals vor allem in Berlin aktiv, ein kleiner, kulturell einflussreicher Verband der Bündischen Jugend. Die Südlegion entstand 1932 durch den Austritt des „Tahoe-Rings“ aus der Ringgemeinschaft Deutscher Pfadfinder. 1934 löste sich die Südlegion offiziel auf, um der Eingliederung in die Hitler-Jugend zu entgehen. Dennoch wurden unter Leitung ihres Bundesführers Rudi Pallas weitere Großfahrten durchgeführt. Der Gruppenstil von Tahoe-Ring und Südlegion unterschied sich stark von dem anderer bündischer Gruppen der 1930er Jahre, die häufig nur die Pädagogik der „Härte“ kannten. Der Wahlspruch des Tahoe-Rings war: „Birg in kälte silberner lilie der rose rote glut“.
Mein Gott, dachte ich, kitschiger geht’s wirklich nicht. Aber immerhin nicht Blut und Boden! Ich las weiter:
„Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich die Südlegion intensiv mit Literatur, Kunst und Philosophie. Enge Kontakte bestanden zum Beispiel zu den Schriftstellern Jean Giono, Ernst Wiechert, Hans Carossa und André Gide. Eines der Ideale der Südlegion war der Hellenismus. Sie öffnete sich dem Liedgut anderer Völker, das sie auf Fahrten in den Süden Europas kennengelernt hatte. Ganz dem bündischen Denken mit seinen Vorstellungen eines Lebens- und Männerbundes verpflichtet, basieren viele der in der Südlegion entstandenen Lieder auf Texten, die aus dem Kreis um den Schriftsteller Stefan George stammen (unter anderem das auch als „Lied der Weißen Rose“ bekannt gewordene Lied „Schließ Aug und Ohr für eine Weil“ von Friedrich Gundolf).“
Aha, dachte ich, also wirklich ein Lied aus dem damaligen Widerstandskreisen.
Der Dichter des Liedes „Strom der Schwere“, so las ich weiter, war ein Friedrich Schnack, „ein deutscher Dichter, Schriftsteller und Journalist, geboren 1888 und gestorben 6. März 1977 in Westdeutschland. Schnack war 1941 Teilnehmer am Weimarer Dichtertreffen, bei dem die Europäische Schriftsteller-Vereinigung gegründet wurde.
Erfolgreicher als mit seiner Lyrik war Schnack mit seinen zahlreichen Erzählungen und Romanen (Romantrilogie der drei Lebens-Alter: Sebastian im Wald, 1926; Beatus und Sabine, 1927; Die Orgel des Himmels, 1927; überarbeitet und zusammengefasst unter dem Titel: Die brennende Liebe, 1935) und – nach dem Zweiten Weltkrieg – mit naturkundlich-poetischen Sachbüchern.
Schnack war Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Mitbegründer der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Folgende Auszeichnungen erhielt er: 1965 Bayerischer Verdienstorden, 1968 Bayerischer Poetentaler, 1974 Großes Bundesverdienstkreuz.“
Aha, dachte ich. Aber was war mit Schnack zwischen 1929 und dem Ende des 2. Weltkrieges? War er denn tatsächlich mit den Widerstandsgruppen im sogenannten 3. Reich vernetzt?
Und ab da habe ich nur noch gestaunt:
1933: Treueversprechen von 88 Schriftstellern gegenüber Hitler
Bei der weiteren Recherche zum Namen Schnack bin ich dann im Internet auf den auch von Schnack unterzeichneten Text eines Treueversprechens gestoßen, das 1933 von 88 deutschen Schriftstellern und Dichtern gegenüber Adolf Hitler abgegeben wurde, und dessen Wortlaut zusammen mit der Unterzeichnerliste am 26. Oktober 1933 deutschlandweit in der Presse verbreitet wurde.
„Die Initiative für das „Gelöbnis“ ging von der Sektion für Dichtkunst derPreußischen Akademie der Künste in Berlin aus, nachdem diese im Frühjahr und Frühsommer 1933 handstreichartig umgebaut und mit Anhängern des Nationalsozialismus besetzt worden war und sich kurz darauf in Deutsche Akademie der Dichtung umbenannt hatte. Kurz davor hatten im Frühjahr 1933 in Deutschland Bücherverbrennungen stattgefunden, denen auch die Werke ausgeschlossener Akademiemitglieder zum Opfer gefallen waren.
Am 4. Oktober 1933 hatte die Regierung Hitler zudem das Schriftstellergesetz erlassen, das zum 1. Januar 1934 in Kraft treten sollte und den Weg für die Gleichschaltung der gesamten deutschen Presse frei machte.
In dieser Situation diente der Aufruf dazu, die vorbehaltlose Unterstützung der deutschen Literaten und Geistesgrößen für die äußerst radikale und nach innen wie nach außen einschneidende Politik des Reichskanzlers Adolf Hitler und seiner Regierung öffentlichkeitswirksam zu bekräftigen und dem erwartbaren „Wahlerfolg“ der Nationalsozialisten, die bereits alle anderen Parteien ausgeschaltet hatten und auf einer Einheitsliste antraten, auf diese Weise das Feld zu ebnen.“
Die 88 Unterzeichner erklärten:
„Friede, Arbeit, Ehre und Freiheit sind die heiligsten Güter jeder Nation und die Voraussetzung eines aufrichtigen Zusammenlebens der Völker untereinander. Das Bewusstsein der Kraft und der wiedergewonnenen Einigkeit, unser aufrichtiger Wille, dem inneren und äußeren Frieden vorbehaltlos zu dienen, die tiefe Überzeugung von unseren Aufgaben zum Wiederaufbau des Reiches und unsere Entschlossenheit, nichts zu tun, was nicht mit unserer und des Vaterlandes Ehre vereinbar ist, veranlassen uns, in dieser ernsten Stunde vor Ihnen, Herr Reichskanzler, das Gelöbnis treuester Gefolgschaft feierlichst abzulegen.“
Der Text klingt im ersten Moment harmlos. Aber immerhin hatten kurz davor die Bücherverbrennungen stattgefunden und Leute wie Ina Seidel, Agnes Miegel, Oskar Loerke, Gottfried Benn mussten zumindest geahnt haben, was da auf die deutsche Kultur und das deutsche Volk hereinbrechen würde. Ich kann es nicht glauben! Was ist da passiert? Wie ist es möglich, dass 88 deutsche Schriftsteller sich zu diesem Gelöbnis bereitfanden? Wie konnte es in so kurzer Zeit dazu kommen, dass denkende, intelligente Menschen sich damit arrangieren konnten, dass geistiges Eigentum von Kollegen öffentlich verbrannt und geschändet wurde? Oder hatte solches Gedankengut schon vor 1933 Wurzeln in vielen Hirnen geschlagen? Die NSDAP hatte sich von einer kleinen Splitterpartei mit 2,6% Wählern innerhalb von wenigen Jahren zur stärksten Partei mit 36% der Wähler entwickeln können.
Oder war es schon so weit, dass es vor allem Angst war, die sie dazu bewegte – vielleicht nicht Angst vor Verfolgung, aber Angst davor, ihren Ruf einzubüßen, von den staatstragenden Behörden missachtet und nicht gefördert zu werden. Denn so fängt es an.
Wie man weiß, gab es auch Schriftsteller, die diesen Weg nicht gegangen sind. Viele wie Brecht, Feuchtwanger, Mann sind emigriert. Andere haben versucht, die Luft anzuhalten und nicht anzuecken, sich aber auch nicht hineinziehen zu lassen wie z. B. Hans Fallada, der sich in der Zeit des Nationalsozialismus versuchte auf Kinderbücher zu beschränken.
Warum waren die anderen so leicht zu kriegen?
1933: Bekenntnis der Hochschulprofessoren zu Adolf Hitler
Aber ich will gerade die Wikiseite wegschalten, da fällt mein Blick auf die nächste Meldung:
Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler
Aufruf deutscher Universitätsgelehrter und Wissenschaftler vom 11. November 1933
Ich erschrecke. Also auch dort, wo eigentlich die Freiheit des Denkens gepflegt wurde oder werden sollte, wo Menschen um die Wahrheit ringen, wohlwissend, dass man sich ihr nur annähern kann und niemand die eine Wahrheit gepachtet hat, wo die Menschen über den Fragen von Ideologie und Politik stehen sollten, da huldigen die Professoren reihenweise dem „Führer“ und das schon 1933, d.h. kurz nach seiner Machtübernahme.
Ich lese mit leichtem Entsetzen weiter:
„Das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat wurde am 11. November 1933 zur Feier der „nationalsozialistischen Revolution“ des Jahres auf einer Festveranstaltung in der Alberthalle in Leipzig als Gelöbnis deutscher Gelehrter – meist im Beamtenverhältnis – vorgetragen. Doch waren nicht alle Unterzeichner Professoren, es finden sich auch Privatdozenten, Lehrbeauftragte, Dozenten bis zu einzelnen Studenten darunter.
Der Titel lautete „Mit Adolf Hitler für des deutschen Volkes Ehre, Freiheit und Recht!“ Insgesamt unterschrieben ca. 900 Personen.
Die Wissenschaftler unterschrieben trotz der Tatsache, dass der nationalsozialistische Staat zuvor durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums massiv in die wissenschaftliche Lehrfreiheit der Hochschulen eingegriffen hatte, indem er Wissenschaftler jüdischen Glaubens oder Herkunft oder demokratischer Gesinnung aus dem Amt vertrieben hatte. Auch war die Selbstbestimmung der Universitäten durch die Einführung des Führerprinzips beseitigt worden und die NSDAP hatte dort einen bestimmenden Einfluss gewonnen.„
Mir wird schlecht, als ich Auszüge aus den Reden der Universitätsdirektoren lese.
hier zitiere ich nur das Beispiel des allseits bekannten Martin Heidegger:
Rektor Martin Heidegger (Freiburg i. Br.):
„Deutsche Lehrer und Kameraden! Deutsche Volksgenossen und Volksgenossinnen! […] Wir haben uns losgesagt von der Vergötzung eines boden- und machtlosen Denkens. Wir sehen das Ende der ihm dienstbaren Philosophie. Wir sind dessen gewiss, dass die klare Härte und die werkgerechte Sicherheit des unnachgiebigen einfachen Fragens nach dem Wesen des Seins wiederkehren. Der ursprüngliche Mut, in der Auseinandersetzung mit dem Seienden an diesem entweder zu wachsen oder zu zerbrechen, ist der innerste Beweggrund des Fragens einer völkischen Wissenschaft. […] Die nationalsozialistische Revolution ist nicht bloß die Übernahme einer vorhandenen Macht im Staat durch eine andere […] Partei, sondern diese Revolution bringt die völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins. Von nun an fordert jedwedes Ding Entscheidung und alles Tun Verantwortung.“
Der Faschismus outet sich hier noch nicht offen durch Kriegshetze, durch offen propagierte Verabscheuung der Juden und durch Aufruf zum Massenmord. Hier geht es nicht, noch nicht, um den Holocaust. Aber es geht um das, was den Weg dazu bereitete. Und es geht darum, das Volk auf die eine, richtige, unhinterfragbare „Wahrheit“ der nationalsozialistischen Ideologie einzuschwören.
Wer heute diese Texte liest, durchschaut die dahinterstehenden Werte und Absichten natürlich leichter, als es die Zeitgenossen konnten. Aber trotzdem: Es gab es damals bereits für alle erkennbar die Verdrängung der Juden aus allen öffentlichen Bereichen, die Verfolgung der Kommunisten, die in den ersten KZs saßen, die Verherrlichung des Arischen usw. Diese Wissenschaftler hätten es sehen können, hätten es sehen müssen. Und es gab schließlich solche, die es sahen. Aber die Masse, auch die Masse der Intellektuellen, hing ihr Fähnchen brav und opportunistisch in den neuen Wind.
Mir wird übel, vor allem deshalb, weil mich das an etwas erinnert.
Wehret den Anfängen!
„Ich fühle mich wie Sophie Scholl“, hat am Beginn der Corona-Maßnahmen eine Querdenkerin gesagt und damit gemeint, dass der Umgang mit ihr als Andersdenkende in seiner Härte, Brutalität und Unmenschlichkeit sowie in seiner Dummheit und Borniertheit sie an das erinnert, was Sophie Scholl gespürt haben muss, als ihr bewusst wurde, dass da etwas losrollte, dem sie sich entgegenstemmen musste.
Diese Frau hat unter den Gutmenschen, Corona-Gläubigen und Drosten-Verehrerinnen dieses Staates einen regelrechten Shitstorm ausgelöst: Empörung über diese Missachtung der Helden des Widerstandes gegen Hitler, über die angebliche Verharmlosung und Relativierung des Nationalsozialismus und den Missbrauch seiner tapferen Gegner….
Worin soll hier ein Missbrauch liegen? Hier werden gesellschaftliche Erscheinungsformen verglichen, die durchaus große Ähnlichkeit haben. Es wird jedoch nicht im Ansatz behauptet, dass gegenwärtig etwas in unserer Gesellschaft stattfände, was nach der geplanten Vernichtung eines Volkes oder einer Gruppe von Menschen aussieht. Allerdings wird hier indirekt vor einer möglichen Weiterentwicklung gewarnt, wie sie damals erfolgte. Und dafür sollten wir dankbar sein!
„Wehret den Anfängen“, ist eine alte Forderung, eine Mahnung und Lehre, die uns durch die menschlichen Katastrophen des Nationalsozialismus aufgegeben wurden. „Seid sensibel für gesellschaftliche Erscheinungen, die sich harmlos tarnen aber Andersdenkenden das Wasser abgraben und Andersseiende aus der Gesellschaft ausschließen!“ Das bedeutet diese Forderung ja wohl. Und genau diese Sensibilität hat jene Frau bewiesen. Was ihr logischerweise sofort um die Ohren flog, weil die, die gemeint waren, sich auf der guten Seite glaubten und alle Andersdenkenden für Rechte, und gefährliche Schwurbler hielten. Womit sie den Eindruck , den die junge Frau empfand, einmal mehr bestätigten.
Tut mir leid. Ich kann es der Frau nachfühlen, habe es immer wieder genauso erlebt.
Und
– wenn ich heute unsere Außenministerin höre, wie sie dazu aufruft Frieden durch Waffen und noch mehr Waffen erreichen zu wollen,
– wenn ich Herrn Habeck höre, der dem deutschen Volk ohne mit der Wimper zu zucken, mal eben eine Wirtschaftskrise, tausendfache Existenznöte und steigende Armut abverlangt, dafür, dass er persönlich bereit ist, die unverbrüchliche Freundschaft mit dem machthungrigsten und mächtigsten Staate der Welt zu pflegen, weil es dazu für ihn gar keine Alternative gibt, und
– wenn ich dann in unseren Medien auch noch lese, dass es angeblich nicht selten die Corona-Querdenker sind, die auch jetzt wieder staatsgefährdende Narrative verbreiten und dem Ukrainischen Volk die selbstlose – wie ich denke selbstzerstörerische – Solidarität verweigern..
dann weiß ich plötzlich auch:
In ganz ähnlicher Weise wird es damals angefangen haben. Und die Mehrheit hat es hingenommen, hat es geschluckt, fand es früher oder später sogar gut und war begeistert.
Eine wirklich erschütternde Erkenntnis.