Besuch bei einem alten Mann

Über Silvester waren wir bei meinem Vater in Oberhausen, haben erzählt, sind mit ihm zum Essen gefahren, haben Kaffee getrunken…

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Ich kann mich noch erinnern, als mir zum ersten Mal auffiel, dass mein Vater älter wurde. Das muss in meinem vierten oder fünften Semester gewesen sein.
Bis dahin war er für mich immer der fite, zähe, starke Mann gewesen, dem nichts schnell genug gehen konnte und der es gewohnt war, hart zuzupacken und sich anzustrengen. Außerdem war mein Vater unglaublich geschickt, praktisch begabt und zu allerlei Handwerkereien fähig: Er konnte unsere Schuhe besohlen, er schnitzte unsere Kasperlefiguren, er baute uns ein wunderbares Schaukelpferd, er verlegte Leitungen, baute nach dem Krieg unsere Möbel selber und für seine Enkelkinder viel später eine riesige Eisenbahnlandschaft oder ein neues Kasperletheater… Seine Schrift war vorbildlich exakt und durchaus auch angenehm, zu betrachten, auch feinmotorisch war er begabt.

Als ich als Studentin eines Tages merkte, dass er die ersten Falten im Gesicht bekam, dass er nicht mehr drei sondern nur noch zwei Stufen auf einmal nehmen konnte, war das nur der allererste Anfang.
Jetzt ist er 89 Jahre und das, was man einen Greis nennt. Er ist gut 10 Zentimeter kleiner als früher, er kann sich seine Knöpfe nicht mehr zumachen, er fühlt nichts mehr in seinen Fingern, jede Bewegung der Arme oder Beide verursacht ihm große Schmerzen. Wenn er sich einen Kaffee macht, ist er anschließend so erschöpft, als hätte er den Garten umgegraben. Am Telefon meldet er sich mit der alt vertrauten, festen Stimme. Aber wenn man ihn sieht, weiß man, was er hinter sich hat und wie es um ihn steht.
Mein Vater ist noch völlig klar im Kopf. Er hat ein besseres Gedächtnis als seine Tochter. Man kann mit ihm reden wie in früher und er erzählt freiwillig und ausführlich, ja packend aus alten Zeiten, wenn er merkt, dass man ihm zuhört.
Natürlich habe ich all diese Geschichten schon oft gehört, als Kind und auch in den letzten Jahren, wenn ich ihn – was nicht sehr oft vorkam – besucht habe. Immerhin trennen uns 500 bis 600 Kilometer. Es rührt mich, welche kleinen Veränderungen heute an seinen Geschichten festzustellen sind. Er ist ganz offenbar nachdenklich geworden, nachdenklich und gefasst.

Mein Vater lebt nach wie vor alleine in seiner Wohnung. Er hat eine Putzhilfe und jemanden für den Garten, eine Bekannte, die für ihn einkauft und eine liebe Nachbarsfamilie, die nach ihm sieht. Seine Geschwister sind auch krank, leidend und alt. Am liebsten hat er heute seine Ruhe. Über unseren Besuch freut er sich. Auf seine Enkel ist er stolz. Das tut mir gut.

Vor dem Tod hat mein Vater keine Angst, wohl aber vor einem langen Leiden, einer langwierigen Hilf-und Würdelosigkeit. Am liebsten möchte er schnell sterben, wenn es so weit ist. Das ist sein letzter Wunsch. Sonst macht er einen fast zufriedenen Eindruck.
Er entschuldigt sich, dass er seinen ganzen Kram nicht selber noch durchgesehen und seinen Hausstand reduziert hat. Nun kann er es nicht mehr. Mein Vater wollte nie jemandem zur Last fallen und will es auch immer noch nicht.

Ich wünsche mir, dass ich eines Tages wenigstens ein bisschen von seiner Würde und Gelassenheit haben werde.
Ich wünsche ihm, dass er nicht leiden muss und vor allem, dass er nicht in die Maschinerie gerät, die sein Leben verlängert ohne ihn zu fragen, ob er noch weiter leben will.

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