Im Allgemeinen habe ich es nicht besonders gerne, wenn meine StudentInnen mitten im Seminar in heftige Dispute zu zweit verfallen. Ich nehme realistischer Weise an, dass das Thema nicht viel mit meinem Seminar zu tun haben wird. Aber dem ist nicht immer so. In dieser Seminareinheit ging es um die veränderte Kindheit heute, im Vergleich zu früheren Zeiten. Nostalgie brach unter den Studierenden aus, Kopfschütteln über die Bedingungen, die Kinder heute vorfinden. Andere fanden, dass die Kinder heute genau so Kinder sind und glücklich sein können wie früher.
Nach dem Seminar kommt Anja zu mir und man merkt ihr ihre innere Aufregung noch richtig an. Sie habe sich mit ihrer Nachbarin Nadja gestritten: Die hätte die Meinung vertreten, dass in unserer Zeit so vieles wegbrechen würde, was früher gut war, was die Menschen glücklicher machte und ihnen bessere Bedingungen bot, im Leben zurecht zu kommen. Sie aber vertrete den Standpunkt, dass es dumm und albern sei, immer nur dem Gestrigen hinterher zu jammern. Natürlich bringe die neue Zeit neue Herausforderungen mit sich, aber die müsse man eben offensiv und aktiv angehen, statt sich gegen jede Veränderung zu wehren und abzuschotten….
Ein spannendes Thema. Und die Posititionen spalten die ganze Gruppe. Diejenigen, die Verluste konstatieren im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten gelten bei den anderen als Dinosaurier, als konservativ, als Träumer, als lebensuntüchtig und von gestern.
Die anderen haben die Begriffe Zukunft und Moderne auf ihrer Seite und die Realität. Und ich denke, es ist die Mehrheit.
Junge Leute kommen sich albern und simperlich vor, wenn sie die Zukunft und die Gegenwart nicht mit offenen Armen begrüssen und annehmen, sich ihr stellen. Sie trauen sich immer zu, mit ihr klar zu kommen und das Beste daraus machen zu können. Der Blick zurück erscheint ihnen feige und lahm.
Aber ist alles, was die Moderne mit sich bringt, besser? Bedeutet modern automatisch fortschrittlich?
Da hatten wir es früher einfacher.
Als ich studierte war das so und es war klar und eindeutig: Diejenigen, die das Bestehende oder Vergangene erhalten wollten, hielten den gesellschaftlichen Fortschritt auf. Veränderung bedeutete damals immer – davon waren wir überzeugt – eine Veränderung zum Besseren, zu mehr Menschlichkeit, mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit.
Heute ist das ganz sicher so einfach nicht mehr. Wenn mir einer sagt, früher gab es einen besseren Kündigungsschutz und ich bedauere, dass der so nicht mehr besteht, dann stemmt er sich gegen moderne Entwicklungen, die keineswegs, einfach weil sie modern sind und scheinbar der Zukunft geschuldet, fortschrittlich sein müssen.
Wenn mir jemand sagt, heute gibt man sich halt nicht mehr ab mit der Frage, ob alle die gleichen Bildungschancen haben, weil Ungleichheit einfach gesellschaftlicher Normalzustand ist, dann kann ich nur sagen: diesen Verlust gesellschaftlicher Verantwortung empfinde ich als Rückschritt der Menschheit.
Vielleicht ist es unter den heutigen Bedingungen besonders für junge Leute sehr schwer, nicht mit zu schwimmen, mit zu stürmen nach vorne zu den unbegrenzten globalen Chancen einer Gesellschaft, einer Gesellschaft freilich, die mit hohen Risiken droht. Aber wenn man jung ist, dann denkt man stets, ich doch nicht. Risiken treffen höchstens die anderen. Und so schlimm wird’s wohl nicht werden.
Und so kommt es wohl, dass man auch als Professor leicht in den Dinosaurier-Sack gesteckt wird, weil man es sich leisten kann, darauf hinzuweisen, dass nicht alles, was die Moderne mit sich bringt, für die Menschheit bekömmlich ist und sein wird.