Der Ehrgeiz ist vorbei. Unterm Strich – I.

Radwechsel

Ich sitze am Straßenrand.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

Bertholt Brecht

Eine Inventur hatte ich vor, eine Analyse all dessen, was da noch ist, was da noch Wert hat, was da noch zählt. Es ist mir wohl kaum gelungen, diesen Prozess hier in meinem Blog deutlich zu machen, obwohl ich doch vorhatte, Inventur zu betreiben, und das so offen, dass alle zusehen können.

Aber sie hat dennoch stattgefunden, langsam, seit Jahren. Sie hat auch im letzten Jahr stattgefunden. Und dieser Tage entdecke ich: Ich habe den Prozess zumindest soweit abgeschlossen, dass ich ein Ergebnis sehe:
Der Prozess begann mit der schmerzhaften Erkenntnis vor etwa 15 Jahren, dass nicht mehr meine Generation es war, die das Heft in der Hand hielt. Ich begann, zum alten Eisen zu gehören. Lange Zeit hat mich diese Erfahrung verletzt und wütend gemacht.
Inzwischen tut es nicht mehr weh. Im Gegenteil, es hat sogar etwas Befreiendes.

Der Prozess bestand vor allem aus Abschieden, aus Abschieden nicht von Träumen – denn denen fühle ich mich näher als vorher – sondern aus Abschieden von der Illusion, wichtig zu sein für diese Welt und von dem Zwang, dies sein zu wollen. Allmählich ist mir der Verzicht geglückt auf den ständigen Willen und Wunsch, immer wieder noch mehr erreichen zu müssen und zu können, besser sein zu wollen, andere zu übertreffen, ihnen das Wasser reichen zu können, genauer, sie zu übertrumpfen, sie zu überragen.
Ich weiß, dass ich dieses Lebensgefühl mit sehr vielen Menschen geteilt habe. Ich bin ein Kind meiner Zeit und nicht bescheiden, zufrieden, dankbar und mit der Wirklichkeit versöhnt, sondern immer bereit, jeden Ehrgeiz mitzumachen, mir jede Anforderung, jede Herausforderung anzuziehen.
Von all dem habe ich in kleinen Schritten mühsam und schmerzhaft, aber inzwischen ein wenig erleichtert, ja fast staunend Abschied genommen und mit der bescheideneren Wirklichkeit Frieden geschlossen.

Ich habe begriffen, dass ich null und nichts davon hätte, wenn ich z.B. noch fünf Fachbücher mehr geschrieben hätte, wenn mein Name täglich in der Zeitung stehen würde, wenn mich viele kennen und sogar bewundern würden. Ich habe mich im Beruf in das gefunden, was ich kann und was ich schaffe und verzichte auf jede weitere Herausforderung, auch wenn die Kollegen um mich herum platzen vor Plänen und Perspektiven, vor Eitelkeit und Arroganz, vor Triumphen und Erfolgen. Macht es alleine, nicht mit mir, nicht mehr!

 

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m.s.


Ich muss nirgends mehr ankommen, muss niemandem noch etwas beweisen, kann es mir leisten, zu zu schauen, zu beobachten, aber auch zu tun und zu genießen, was noch zählt, was noch geht und was noch wert ist, es zu leben. Ich brauche keine Schätze mehr anzuhäufen, keine Leistungen mehr vorzulegen. Ich habe mein Teil getan, um diese Welt dabei zu unterstützen, sich weiter zu drehen.

So reden alte Leute?
Möglich. Ich bin nicht mehr jung. Ich spüre es in allen Knochen und auch mental, dass ich bald 60 Jahre gelebt habe und dass man dabei Federn und Kräfte verliert.
Aber man gewinnt auch dabei, nicht nur körperliche Beschwerden und alle möglichen Behinderungen, sondern auch Einsichten und Erfahrungen und Mut.

Ich bin bescheiden geworden und endlich zufrieden mit meinem Leben.
Vielleicht werde ich keine Spuren hinterlassen. Aber was nutzen die tollsten Spuren dem, der tot ist?

Ich traue mich nun viel mehr als früher, zu tun, was mir beliebt: den Anblick einer Blume zu genießen, einem Gedanken nachzuhängen, die laute und aufdringliche Welt um mich ab und an einfach zu ignorieren, in die andere Richtung zu laufen als in die, die gerade in ist, etwas anders zu machen, als üblich, etwas anderes zu erstreben, als das, was angeblich das Beste ist.
Ich habe Lust, Dinge zu tun, die mir einfach nur Freude bereiten oder auch solche, die meiner Wut endlich Luft machen. Und ich habe Lust, etwas zu tun, das in sich wirklich sinnvoll ist, nicht nur mir dient und mich herausstellt, sondern einfach für sich Sinn macht.
Ich fühle mich jetzt, wo ich die letzte Etappe meiner Reise angetreten habe, mehr als Teil dieser Welt, als ich es je getan habe und gleichzeitig unabhängiger von ihr und den anderen Menschen, als ich es je sein konnte.
Vielleicht dauert diese Etappe noch 20 Jahre, vielleicht nur 20 Tage. Das ändert nichts.

Die Scham ist vorbei, so hieß ein für mich vor vielen Jahren bahnbrechendes Buch. Heute würde ich ergänzen: der Ehrgeiz auch und das Schielen nach dem, was erwartet wird.
Als ich 50 wurde, habe ich leise zu mir gesagt: 50 Jahre hast du mehr oder weniger gemacht, was von dir erwartet wurde, ab jetzt machst du das, was du willst.
Heute sage ich es laut.

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