Ich bin ein Nachkriegskind.
Trümmer waren in meiner Kindheit Alltag. Wie sie entstanden waren, wusste ich nur vom Höre-Sagen. Der Krieg lag 7 Jahre zurück, als ich anfing in den Trümmern zu spielen, Kachelstücke zu sammeln und Kuckucksnelkensträuße zu pflücken. Das war eine Ewigkeit her für mich Vierjährige.
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Dresden, die Heimatstadt meiner Mutter, 1945
Ruhrgebiet, Heimat meines Vaters, 1945
Ich kannte natürlich die Erzählungen: das brennende Dresden meiner Mutter, das Foto aus der Zeitung mit dem Todesengel, die Geschichte, wie kurz vor Kriegsende das Geburtshaus meines Vaters in Gelsenkirchen zerbombt wurde, die schrecklichen Erzählungen meiner Mutter, wie sie hochschwanger im Wald bei Bad Lauterberg an den Waldboden gedrückt, die Fliegerbombenalarme überlebte.
Ich kannte auch die Geschichte, wie man mit dem Krieg umgehen muss: Meine hochschwangere Mutter begegnete einem amerikanischen Besatzungssoldaten. Der warf sein Lasso und fing sie ein. Sie blieb stehen, ganz ruhig, streckte ihren Bauch raus, sah ihn streng an. Das Lasso fiel an ihr herab auf den Weg. Sie stieg heraus und der junge Schwarze grinste verlegen und rollte sein Lasso wieder ein. So dachte ich wird man mit dem Krieg fertig. Dass zu diesem Zeitpunkt gar kein Krieg mehr war, hatte ich dabei übersehen.
Ich hatte lange Zeit Angst vor Uniformen. Meine Eltern beide im katholischen Widerstand hatten mir nie so etwas wie Stolz oder Vertrauen in Menschen mit Uniform eingeflößt. Unser braver, dicker Stadtviertelpolizist musste darunter leiden: Als wir ihn auf der anderen Straßenseite sahen, brach ich in furchtbares Gezeter und Angstgeschrei aus. Und alle seine Bemühungen, mich zu beruhigen oder mich freundlich anzusprechen, verstärkten meinen Widerstand. Armer Mann. Aber ich bin noch heute stolz auf mich!Aber im Nachkriegs-Ruhrgebiet boomte das Wirtschaftswunder. Die Trümmer verschwanden allmählich. An den Himmel schrieben silbern glänzende Flugzeuge Persil bleibt Persil. Die Welt war voller Tatendrang und Verlockungen.Dennoch, bei jedem Überschallflugzeug konnte ich bis in meine Jugend hinein nicht umhin, mich wie meine Mutter im Wald damals auf den Boden zu werfen. Dabei war gar nicht ich es, die sie damals im Bauch mit dabei gehabt hatte.Überhaupt war meine Mutter ziemlich unbeeindruckt von der damaligen Nachkriegssituation: Von ihr hörte ich immer mal wieder, dass sie den Großen nicht traue. Irgendwann würden die doch wieder Krieg machen und auf einander losschlagen.
Dennoch kam das Wort Krieg in meiner Kindheit mehr als eine Vergangenheitserklärung, und weniger als eine reale Bedrohung vor. Erst als Jugendliche, als ich Borchert für mich entdeckte, die Trümmerliteratur verschlang, als ich den kalten Krieg bis in die Knochen spürte, während auf dem Bildschirm unseres ersten Fernsehgerätes, die Landkarte von Kuba auftauchte und die strategische Situation der Kubakrise erläutert wurde, hatte ich begriffen, dass Krieg nicht mit dem zweiten Weltkrieg aus und vorbei sein würde in meinem Leben.
Der kalte Krieg war in meiner Jugend und während meines Erwachsenwerdens allgegenwärtig. Wir demonstrierten. Wir waren viele. Es hatte mit Vietnam angefangen. Auch da verteidigte die USA ihre Freiheit und Sicherheit an irgendeinem vietnamesischen Hindukusch. Aber da sahen die Augen der Öffentlichkeit plötzlich, was da wirklich passierte. Im eigenen Land und erst Recht in Europa wurde erkannt, was das war: Völkermord und Völkermord auf Raten. Bis heute leiden die Menschen in Nordvietnam an den Folgen der chemischen Waffen.
„Wenn dieser Morgen kommt, in Vietnam, dann wird manch anderes Volk nach seinen Herren sehn. Da bleibt viel Zorn noch übrig.“ So sangen wir in dieser Zeit mit Franz Josef Degenhardt.
Die Welt ist komplizierter, als wir damals hofften. Die Herren und die Damen, die die Kriege brauchen, nutzen das für ihre Interessen.