Wenn Leute, die sich gegen Diskriminierung auflehnen, selbst diskriminieren – ohne es zu merken? Was dann?

Anfang des Jahres hat man mir einen herben Schock versetzt.

Ich hatte in der Fachzeitschrift FORUM SOZIAL einen Text gelesen. Ich schätzte diese Fachzeitschrift sehr wegen ihrer guten, aktuellen Artikel und ihrer ungewohnten Kritikfähigkeit und Kritikbereitschaft am Sozialen System und an der eigenen Profession Soziale Arbeit. Der Artikel, den ich las, brachte mich aber auf der Stelle dazu , einen Gegentext zu schreiben.
Es geht um den Artikel „Soziale Arbeit und die Ideologie der Ungleichwertigkeit in Zeiten der Corona-Krise“, veröffentlicht im Forum Sozial 4/2020.Die vier AutorInnen sind durchweg SpezialistInnen zum Thema Diskriminierung.
Was ich vorfand, war für mich ein erschütterndes Beispiel dafür, dass auch Menschen, die sich selbst wissenschaftlich mit Diskriminierung befassen, in der Lage sind, ihrerseits hemmungslos Diskriminierungen zu begehen.

Um es konkret zu machen: Bei dem Text über die Ideologie der Ungleichwertigkeit in Zeiten der Corona-Krise ging es nicht um die insbesondere für sozial benachteiligte BürgerInnen massiven Kollateralschäden und die Zunahme der sozialen Ungleichheit, die durch die sogenannten „Corona-Maßnahmen“ weiter verschärft wurde. Es ging fast ausschließlich um die von den AutorInnen festgestellte Zunahme von Ideologien der Ungleichwertigkeit in rechtsradikalen Kreisen. Diese Tendenz nahmen sie unmittelbar und pauschal an der Gruppe der Gegner der Corona-Maßnahmen wahr.
So unterstellten sie pauschal den „Querdenkern“ Verhaltensweisen und Denkmuster, die sie bei der äußersten Rechten beobachtet hatten. Das heißt, sie steckten alle Corona-Maßnahmen-Gegner schlicht in den rechtsradikalen Sack. Im Umkehrschluss, werten und interpretieren sie dann alle Argumente, die von dieser Widerstandsbewegung geäußert werden, automatisch als rechts und rechtsradikal.
Die VerfasserInnen merkten zwar selbst an, dass es sich, wie sie sich ausdrücken „nicht ausschließlich um antidemokratische Veranstaltungen“ bei den Aktionen der KritikerInnen handelt. Die Tatsache aber, dass rechtsradikale und auch solche Menschen dabei sind, die andere als „Sündenböcke“ verbal angreifen, scheint ihnen als ausreichende Legitimation dafür, die  gesamte KritikerInnen-Szene pauschal und  generell als Gefahr für die Demokratie und als faschistischen Gefahr darzustellen und abzustempeln. Außerdem vermuteten sie frei weg, dass auch diejenigen unter den „Querdenkern“, die bisher nicht rechtes Gedankengut im Herzen bewegten, sehr unreife Persönlichkeiten seien, die sich leicht von den Rechten einfangen lassen.

Für die AutorInnen reichen also die Anwesenheit rechtsradikaler Menschen, die  sich unter die bürgerlichen, friedlich demonstrierenden, natürlich aber empörten Corona-Maßnahmen-GegnerInnen mischen, um anschließend, scheinbar mit bestem Gewissen, Folgendes zu tun:

  • Sie lassen die Mehrheit der Corona-Maßnahmen-Gegner schlicht unter den Teppich fallen und setzen sich nicht ansatzweise mit ihren Argumenten und den von ihnen vorgelegten Fakten auseinander, (Anwälte für Aufklärung 2020;  Stiftung Corona-Ausschuss 2020), ja sie nehmen sie überhaupt nicht zur Kenntnis.
  • Sie stecken die Mehrheit der Corona- Maßnahmen-Gegner in einen Sack mit Rechtsradikalen, Spinnern, Geisteskranken, geistig Unterentwickelten oder, wie sie sagen, „Gruppen mit weniger gefestigtem Weltbild“ .
  • Sie werfen der Mehrheit der Corona- Maßnahmen-Gegner von vorneherein pauschal Sozial-Darwinismus, Entsolidarisierung, Rassismus und sogar Antisemitismus vor bzw. deuten deren Argumente entsprechend um.
  • Sie gehen davon aus, dass sich „die Grenze zwischen gewaltbereiter Neonazi-Szene und gesellschaftlichen Gruppen mit weniger gefestigtem Weltbild immer weiter … vermischen“. Hier wird eine Differenzierung nicht nur nicht vorgenommen. Sie wird offenbar auch nicht für nötig gehalten.
  • Sie beschwören ein Feindbild und beziehen dieses nicht nur auf diejenigen, die ihren Vorwürfen entsprechen, sondern gleich auf alle KritikerInnen der Corona-Maßnahmen und schüren somit die Spaltung unserer Gesellschaft selbst.

Dieses Vorgehen ist absolut undemokratisch.

  • Seit wann gilt nur eine Meinung in unserem Land und die, die diese Meinung nicht teilen, können – ja müssen – diffamiert und angegriffen werden?
  • Seit wann ist ein wissenschaftlicher Diskurs über einen Gegenstand etwas Verbotenes? Die vielen WissenschaftlerInnen (u. a. Prof. Dr. Bhadi, Prof. Dr. Mölling, Prof. Dr. Streek, Prof. Dr. Wodarg), die die Corona-Maßnahmen kritisieren, werden seit Monaten insbesondere von den Medien mehrheitlich diffamiert, diskreditiert und aus dem öffentlichen Meinungsbild so gut wie ausgeschlossen. Es geht nicht darum, ihnen zuzustimmen, sondern darum sie ernst zu nehmen und mit ihnen in einen fairen wissenschaftlichen Meinungsaustausch zu treten.

Somit handelt es sich bei dem von mir hier vorgestellten Text um eine Diskriminierung und Verunglimpfung von kritisch denkenden, sich verantwortlich fühlenden Menschen unserer Gesellschaft. Das Recht für eine solche Diskriminierung leiten sie schlicht aus ihren Vorurteilen ab.
Es scheint wie ein Treppenwitz: VertreterInnen der Profession Soziale Arbeit, die sich vehement gegen jede Diskriminierung wenden, diskriminieren ihrerseits Mitmenschen – ohne die geringste belastbare Wissengrundlage über deren Argumente und Absichten – „in aller Unschuld“ und in Bausch und Bogen. Aber so funktioniert Diskriminierung ja immer.
Dieses Vorgehen ist nun nicht besonders originell.
Leider handelt es sich um eine in der gesamten Bevölkerung derzeit verbreitete, mediengesteuerte Diffamierungskampagne.
Dass sich allerdings Fachleute der Sozialen Arbeit in dieser hemmungslosen Weise daran beteiligen, ist schon erstaunlich.

Mein Gegen-Artikel wurde vom Redakteur des FORUM SOZIAL abgelehnt und nicht veröffentlicht. Damit endete eine Jahre lange gute und einvernehmliche Zusammenarbeit in Fragen der kritischen Sozialen Arbeit, was ich sehr bedauere.

Seine erste Reaktion war noch verhalten positiv gewesen. Er sei ja froh, wenn es zu diesem Artikel Gegenwind gäbe, der ihm auch nicht gefiele. Und bis auf einen Punkt teile er meine Meinung durchaus. Nach längerer Überlegung aber teilte er mir mit, dass er den Artikel nicht veröffentlichen könne. Er verwies auf seine Mutter, der er auf alle Fälle Corona ersparen möchte und von daher meiner Argumentation nicht folgen könne.

Merkwürdig!
Ich bin die letzte, die seiner Mutter Corona wünschen würde und wäre sehr froh gewesen, wenn alte Menschen von der Regierung nicht weggesperrt, sondern wirklich geschützt und gestärkt worden wären.
Aber solche Argumente werden nicht gehört, wenn man in den Verdacht geraten ist, zu den „darwinistischen, menschenverachtenden Querdenkern“ zu gehören. Sehr schade!

Ich denke, dass er ganz einfach Angst hatte, selbst als Querdenker-Sympathisant diskreditiert zu werden.

Das ist jetzt ein halbes Jahr her. Leserbriefe zu dem besagten Artikel habe ich keine gefunden. Vielleicht gab es keine. Wer weiß?
Gestern flatterte mir eine „Öffentliche Erklärung zur Corona-Politik“ ins Netz, die eine Gruppe von WissenschaftlerInnen herausgebracht hat. Dort finden sich plötzlich alle Kritikpunkte ausnahmslos wieder, die die Widerstandsbewegung, natürlich auch die wesentlichen Gruppierungen unter den Querdenkern die ganze Zeit seit Beginn des vergangenen Jahres vertreten haben. Für sie hatte das allerdings heftige Diskriminierungen, Diffamierungen, Ausgrenzungen, Verfolgungen bis hin zu Ehrverletzungen und bösartigen Verdächtigungen zur Folge und hat sie noch immer.

Ich habe mich gefreut über den Text (hier nachzulesen), frage mich aber, warum erst jetzt, wo sich allgemein eine Lockerung in den Mainstream-Medien breit macht, diese Kritik auf einmal geäußert wird. Ich hoffe, den Autoren ist klar, dass sie nur wiederholen, was vor ihnen schon viele gesagt haben und dafür heftig befeindet und als Schwerverbrecher angesehen wurden. Es wäre nur fair, sich auf ihre „VorgängerInnen“ zu beziehen.

Mich bewegen dabei viele Fragen:

Vielleicht wird die Kritik jetzt nicht mehr so heftig abgelehnt? Und wer rehabilitiert dann die, die wie in meinem Beispiel hemmungslos diskriminierten Menschen? Oder wird es den AutorInnen der neuen Erklärung vielleicht auch so gehen wie den anderen vor ihnen?

Und wie geht es meinem linken Redakteur, wenn er auf einmal die Argumente der Querdenker im Munde von Wissenschaftlern findet, die er hoch schätzt?
Er hat mich auch mal hoch geschätzt.

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Eine Antwort zu Wenn Leute, die sich gegen Diskriminierung auflehnen, selbst diskriminieren – ohne es zu merken? Was dann?

  1. Marcus Nachtigall sagt:

    Sehr geehrte Frau Seithe,
    Ich bin seit 15 Jahren Sozialarbeiter und finde diese Lage , in dem sich unserer Land befindet mehr als beängstigend. Ich habe des Gefühl der Entwicklung machtlos gegenüber zu stehen.

    Ich kann ihrem Beitrag und ihrer Argumentation nur zustimmen und wundere mich Tag ein Tag aus wieso das keiner wahrnimmt. Selbst, die meisten meiner Kollegen haben ihr kritisches Denken entweder verloren oder nie gelernt ? ! Ich danke ihnen für diesen Betrag . Er gibt einen das Gefühl doch nicht ganz allein zu sein. Bitte machen sie weiter so !

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