Soziale Arbeit und Corona

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10.4.2021 neu erschienen:

Corona, Gesellschaft und Soziale Arbeit

Im Juventa-Verlag ist dieser Reader heute neu erschienen. Herausgegeben wurde er von Roland Lutz, Jan Steinhaßen und Johannes Kniffki. Der Untertitel lautet: Neue Perspektiven und Pfade.
Die Texte stehen unter den Kapitelüberschriften:
Coronakrise
Soziale Kosten
Perspektiven und Pfade
Politisierung und Emanzipation.

Im Band ist von mir der Artikel: „Jugendhilfe und Corona – Schicksalsschlag, Kollateralschäden oder Strategie?“ enthalten.

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Systemrelvante Soziale Arbeit?

Publiziert am 19.2.2021 von Mrs. Tapir

Seit Beginn der Corina-Krise wird innerhalb der Profession Soziale um die Anerkennung ihrer Systemrelevanz gekämpft.
Offiziell wurden, was die Jugendhilfe betrifft, nur die Kindertagesstätten und die stationären Jugendhilfeeinrichtungen als systemrelevant anerkannt (BMAS 2020 1). Böllert (2020 2) stellt fest, dass die Bildungs- und Freizeitangebote der Jugendhilfe dagegen nicht als systemrelevant eingeschätzt und folglich auch nicht weitergeführt wurden.

Problematisch ist für mich, dass dieser Begriff „Systemrelevanz“ von vielen KollegInnen in diesem Kontext unreflektiert benutzt wird. Die Betonung der Systemrelevant legt die Vorstellung nahe, das Soziale Arbeit nur ein Mandat hätte, nämlich die Ausführung staatlicher Sorge- aber auch Kontrollmaßnahmen.
Ist Soziale Arbeit nicht mehr?
Anja Eichhorn hat zu dieser Thematik einen lesenswerten und nachdenkenswerten Artikel verfasst.

„Die Tatsache, dass Soziale Arbeit bzw. hier die Jugendhilfe nicht bzw. nur in wenigen Teilen als „systemrelevant“ eingestuft wurde, war von Beginn der Krise an für berufspolitische Verbände der Sozialen Arbeit, die Gewerkschaft ver.di, verschiedenen Hochschulen und z. B. für den Paritätischen Wohlfahrtsverband Anlass zu heftigen Protesten. Gefordert wurde, Soziale Arbeit und damit die Jugendhilfe in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Systemrelevanz anzuerkennen. Sie sei generell für die Gesellschaft unverzichtbar und würde gerade in der Krise dringend gebraucht. Ihre Beschäftigten hätten also die gleiche ideelle und materielle Anerkennung verdient wie z. B. die Pflege-MitarbeiterInnen. Auch dieser gesellschaftliche Bereich müsse deswegen finanziell so ausgestattet werden, dass die hier anstehenden Aufgaben trotz der Krise erfüllt werden können.
Auch das Deutsche Jugendinstitut kritisiert in diesem Zusammenhang das Verhalten der Regierung gegenüber der Sozialen Arbeit: „Die flächendeckende Anerkennung von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe als „systemrelevante“ Berufsgruppe und damit auch der Zugang zu Angeboten der Notbetreuung für die Kinder von Fachkräften wäre eine Maßnahme, die die Funktionsfähigkeit des Systems der Kinder- und Jugendhilfe stärken würde. Zudem wäre dies auch eine längst überfällige Geste der Anerkennung für Mitarbeitende der Kinder- und Jugendhilfe“ (DJI 2020, S. 72 4) 3.

Bis heute geht das Bestreben weiter, Soziale Arbeit als systemimmanat anzuerkennen (vgl. den Aufruf „dauerhaft systemrelevant“ vom 17.2.21, der sich an die ständige Impfkommission der RKI wendet.
Dies ist verständlich mit Blick auf die „Vorteile“, z.B. die Möglichkeit von MitarbeiterInnen, ihre Kinder im Kindergarten im Rahmen der Notbetreuung unterzubringen oder im Kontext der Impfstrategie bevorzugt zu werden.

Ich meine aber, „der verzweifelte Ruf vieler KollegInnen in der Corona-Krise, dass Soziale Arbeit und Jugendhilfe doch ebenso systemrelevant sein müssten wie z.B. das Gesundheitswesen und die Pflege, sollte uns nachdenklich stimmen.


Die Politik macht keinerlei Anzeichen dafür, dass sie uns schätzt. Vielmehr entkernt sie unsere Profession, erlaubt sich Eingriffe in unsere Fachlichkeit, definiert die Aufgaben der Sozialen Arbeit einseitig und fachlich unangemessen und deckelt das Budget für unsere Aufgabenbereiche immer weiter.
Dass wir sehr wohl relevant sind, wenn es darum geht, Menschen in dieser Gesellschaft in Krisen und im Alltag zu unterstützen, sie zu begleiten und uns für ihre Belange einzusetzen, das ist absolut richtig.
Wieso müssen wir dann darum betteln, wahrgenommen zu werden? Wieso müssen wir den Staat darum anflehen, endlich zur Kenntnis genommen zu werden? Eine Gesellschaft und vor allem eine Regierung, die das einfach ignoriert, ist blind oder verhält sich bewusst vernachlässigend, wenn nicht sogar ablehnend gegenüber unserer Profession und ihren Leistungen, die für von Krisen betroffene Menschen unverzichtbar sind.
Für eine humanistisch und fachlich orientierte Soziale Arbeit und Jugendhilfe scheint es mir deshalb angemessen, gerade gegenüber der herrschenden neoliberalen Sozialpolitik, kritisch zu sein. Statt um Anerkennung zu betteln, wäre es sinnvoll, öffentlich Forderungen zu stellen. Statt – wie am Beginn der Pandemie geschehen – für jede doch endlich gelieferte Maske dankbar zu sein, gälte es, die Rigidität der Maßnahmen angesichts der entstehenden Kollateralschäden laut zu hinterfragen. Das heißt: Anstatt das Heil unter den Fittichen der Regierung zu suchen, wäre es angebrachter, ihr die Zähne zu zeigen.“3

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1BMAS: Liste der systemrelevanten Bereiche. Beitrag vom 30.3.2020
www.bmas.de/DE/Schwerpunkte/Informationen-Corona/Kurzarbeit/liste-systemrelevante-bereiche.html   (Abruf 4.10.20)

2Böllert, K. (2020): Herausforderungen von und Perspektiven nach Covid-19: Corona geht uns alle an – nur manche ganz besonders! In: neue praxis 2/20, S. 181–187

3Diese Absätze sind meinem Artikel „Jugendhilfe und CoronaSchicksalsschlag, Kollateralschäden oder Strategie?“ aus dem Buch „Corona Gesellschaft und Soziale Arbeit“, entnommen, das im März 21 bei Juventa erscheinen wird.

4 DJI (Deutsches Jugendinstitut): Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie. DJI-Jugendhilfeb@rometer bei Jugendämtern. Juni 2020.  München: Deutsches Jugendinstitut

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Die Bundesregierung spricht mit der Jugend?

Publiziert am 9.2.2021 von Mrs. Tapir

Zufällig traf ich eben im Netz auf ein Video vom 2.2.21:
Frau Bundesministerin Giffey spricht mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen über die aktuellen Corona-Herausforderungen,
Eine Handvoll ausgesuchter, politisch interessierter Jugendlicher waren dazu aufgerufen, ihre Lage in der Corona-Krise zu beschreiben und ihre Probleme bzw. die Probleme, die sie sehen, deutlich zu machen.
Frau Giffey hat sich die verschiedenen Statements angehört und sich Notizen gemacht. Danach erklärte sie ihr Bedauern und beteuerte, wie sehr ihr die Lage von Kinder und Jugendlichen am Herzen läge. Auf die beschriebenen Probleme ging sie nicht weiter ein. Es gab auch keine klare Bestätigung, wie massiv die Schädigungen und die Zumutungen in den verschiedenen Bereichen sind. Dafür aber forderte Frau Giffey ihre ZuhörerInnen auf, selbst Vorschläge zu machen, wie eine schrittweise „Normalisierung“ des Lebens der Kinder und Jugendlichen demnächst am besten wieder hergestellt werden könnte.

Am Schluss raffte sich eine der Teilnehmerinnen zu der mutigen Forderung auf, in die Kinder- und Jugendhilfe, die offene Jugendarbeit und den Bereich Kinder und Jugend insgesamt sofort und erst recht nach der Krise viel, viel Geld zu stecken, damit die entstandenen Schäden aufgefangen und nach der Krise so weit wie möglich bewältigt werden können. Lächelnd versprach Frau Giffey einen riesigen Batzen Geld sicherzustellen. Zur Zeit gelänge es für sämtliche Einrichtungen der offenen Jugendarbeit zwar nur, diese gerade eben am Leben zu erhalten. Aber danach müsse es wieder richtig gut weitergehen.

Am 11. März will sie ein großes Jugend-Hearing veranstalten, um noch mehr Betroffene zu Wort kommen zu lassen. Sie sieht in ihnen, wie sie sich ausdrückte, Politik-BeraterInnen.

Mich erinnert das Ganze fatal an das, was Frau Giffeys Ministerium derzeit mit dem Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz veranstaltet hat. Alle durften ihre Wünsche und Meinungen äußern. Viele, nicht alle, wurden gehört. Aber am Ende war es doch so, als hätten sie nur in taube Ohnen gesprochen. Das neue Gesetz wird kein demokratisch erarbeitetes Gesetz sein, wie es ehemals das KJHG war (an dem 30 Jahre lang gearbeitet wurde), sondern eines, dass die herrschende Politk zusammen mit gewissen Lobby-Gruppen ausgebrütet hat.

Zu dem Wunsch der jungen Kollegin muss man leider anmerken:
Hoffnungen auf eine finanzielle Stärkung der Bereiche Kinder- und Jugend zur Kompensation der entstandenen Kollateralschäden durch die Corona-Maßnahmen werden wohl kaum erfüllt werden. Klundt z.B. hält diesen Vorstellungen entgegen, „dass die Haushalte sowohl im Bund wie auch in Ländern und Kommunen unter enormen Einnahmeausfällen leiden und damit generell weniger Haushaltsmittel zur Verfügung stehen“ (Klundt 2020, S. 7). Da außerdem eine Übernahme der kommunalen Altschulden nicht geplant ist, erscheint diese Situation als bedenklich, denn schon in der Vergangenheit waren die Soziale Arbeit und insbesondere die Jugendhilfe Bereiche, in denen hohe Einsparpotenziale vermutet wurden (Klundt 2020; Meyer 2020).

Literaturhinweise:
Klundt, M. : Auswirkungen der Corona-Krise auf die Lebensbedingungen
junger Menschen. Studie für die Bundestagsfraktion DIE LINKE. In: Publikationen
der Fraktion.Beitrag vom 15.6.2020
www.linksfraktion.de/publikationen/broschuere/ 
(Abruf 4.10.20)
Meyer, N.: Verwerfung in der Sozialen Arbeit – Corona als Auslöser? In: Böhmer,
Anselm; Engelbracht, Mischa; Hünersdorf, Bettina; Kessl, Fabian; Täubig, Vicki
(Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. Beitrag
vom 30.6.2020
https://sozpaed-corona.de/verwerfung-in-der-sozialen-arbeit-corona-als-ausloeser/
(Abruf 7.10.20)

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Die Corona-Pandemie als Erziehungsproblem?

Publiziert am 4.2.2021 von Mrs. Tapir

Im Blog „Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog um Corona“(hrsg. von Anselm Böhmer und anderen) setzt sich Arnd-Michael Nohl mit dem Phänomen der, wie er sie nennt , „Massenerziehung“ der Bevölkerung auseinander, die durch die herrschende Politik zum Zwecke der Durchsetzung der von ihr festgelegten Corona-Maßnahmen eingeleitet und bis heute und auf nicht absehbare Zeit aufrechterhalten wird.

Nohl zeigt auf, wie diese „Massenerziehung“ von oben – tatkräftig unterstützt von der Presse und den öffentlichen Medien – umschlägt in eine Erziehung der Menschen untereinander. Ziel sei es bei dieser Methode, die erforderlichen Maßnahmen nicht durch Zwang, sondern durch eine Gewöhnung der Menschen zu erreichen. Dabei wird dem Individuum nicht nur die Einhaltung der Regeln zugemutet, sondern die persönliche Verantwortung für den weiteren Verlauf der Pandemie zugeschoben.Das bedeutet, so Nohl, dass nun jeder, „, der die Corona-Regeln übertritt und insbesondere die Quarantäneauflagen nicht beachtet, fürchten müssen, an den öffentlichen Pranger gestellt zu werden.“
Außerdem werden inzwischen nicht nur die Einzelnen verantwortlich gemacht, sondern es werden ganze Gruppe, Stadtteile, Einrichtungen, Schulklassen in Sanktionen einbezogen. „Dass nicht mehr nur derdie Einzelne, sondern die ganze Gruppe (oder gar alle Bewohnerinnen eines Kreises) Nachteile erfahren, weil Einzelne sich nicht an die AHA-Regeln halten, lässt aus allen Mitmenschen potentielle Ko-Erziehende werden.“ Indem Menschen sich durch die „Unvorsichtigkeit“ anderer in ihren ureigensten Interessen bedroht sehen, übernehmen sie nun freiwillig selbst die vermeintliche Erziehungsaufgabe der Politik.

Leider bleibt es bei der Feststellung und diffenzierten Darlegung der Phänomene selbst. Nohl drückt sich – wie fast alle WissnschaftlerInnen es zu tun pflegen – um eine wirklich klare Stellungnahme und politische Einschätzungen, sowie um Forderungen herum. Er wählt mit dem Ausdruck „Massenerziehung“ einen vorsichtigen, fast pädagogisch wirkenden Begriff für das, was er sehr treffend beschreibt. So entsteht allerdings der Eindruck, dass es sich hier tatsächlich um eine Form pädagogischen Wirkens handeln könnte. Er spricht nicht aus, dass diese Form einer Massenerziehung nichts mit den pädagigischen Vorstellungen humanistischer Pädagogik zu tun hat, sondern schlicht ein Beispiel von autoritärer Politik ist. Er spricht nicht von autoritärer Erziehung, von Manipulation, von Mißachtung der Eigenverantwortung der Menschen, nicht von Aufforderung zur Denunziation und auch nur sehr indirekt von Panikmache. Diese Begriffe überlässt er offenbar lieber den KritikerInnen der Maßnahmen.

Immerhin fragt sich Nohl am Ende seiner Ausführungen, ob diese Massenerziehung ein Dauerzustand sein darf. „Dass alle alle potentiell erziehen dürfen und die Politik dies unterstützt, muss man nicht gutheißen … Erziehung wird zum Gebot der Stunde. Die zentrale Frage aber ist: Wird sich die Bevölkerung daran gewöhnen, (politisch) erzogen zu werden und sogar selbst zu erziehen, und lässt sie dies auch nach dem Abebben der Pandemie zu? Oder bleibt die „gesellschaftsweite Erziehung“ ein Phänomen des Ausnahmezustandes, dessen Ende von allen herbeigesehnt wird?“
Nohl warnt davor, dass durch das Verhalten der Regierung den KritikerInnen der Maßnahmen, die hier von Bevormundung der Bevölkerung sprechen, Argumente geliefert werden. Und er schlägt eine öffentliche Diskussion zu Grenzen und Notwendigkeiten von Massenerziehung vor.

Es ist zu befürchten, dass es diese öffentliche Diskussion nicht geben wird. Schließlich diskutiert ein autoritärer Erzieher seine Methode nicht zunächst mit seinen Zöglingen, und er wird auch keine Rechenschaft vor ihnen ablegen. In einer Demokratie hat eine solche „Massenerziehung“ überhaupt keinen Platz. Hier wird über die Bürger eines demokratischen Staates von oben beschieden wie über unmündige Kleinkinder, statt sie in die Entscheidungen einzubeziehen und ihre Mitbestimmung zu sichern.

Schließlich gibt es ja auch keine offene Diskussion über die Notwendigkeit der gesetzten Maßnahmen, die von anfang an als alternativlose Wahrheit hingestellt wurde, begründet mit dem Verweis auf regierungsnahe wissenschaftliche Berater. Dabei zeigen die Regierung und deren WissenschaftlerInnen nicht die geringste Bereitschaft, diese „Wahrheit“, wie es in der Wissenschaft selbstverständlich sein sollte, mit den anders lautenden Erkenntnissen zahlreicher profilierten WissenschaftlerInnen über die Größenordnung der Gefahr des Corona-Virus zu konfrontieren und im Dialog mit ihnen zu gemeinsamen Einschätzungen zu kommen.

Das zurzeit praktizierte autoritäre, demokratie-ferne Verhalten der Regierung wäre allerhöchstens durch eine existentielle Notlage der gesamten Gesellschaft gerechtfertigt, wie sie früher etwa mit der Pest über die Menschen hereingebrochen ist, die drohte, mehr als die Hälfte der Bevökerung umzubringen.
Es drängt sich die Frage auf, warum die Regierung diese „Pestszenerie“ hervorgerufen hat und unbedingt aufrechterhalten will. Ist der Massenerziehungsversuch vielleicht nicht nur der Pandemie eines besonders für alte Menschen gefährlichen Virus geschuldet, sondern eine Einübung in nicht-demokratische Zukunftsperspektiven?