Soziale Arbeit und Sozialstaat

Widersprüchliche Antwort auf die Soziale Frage

Soziale Arbeit ist immer eine gesellschaftliche Antwort auf die „Soziale Frage“, in ihren Anfängen in der Zeit der Industrialisierung bis heute.
Soziale Arbeit ist s keine revolutionäre Antwort auf diese Frage. Soziale Arbeit ist  historisch ein Kind der Sozialdemokratie und bildete sozusagen den Gegenpol zur damaligen politischen und sozialistischen (auf Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaft orientierten) Arbeiterbewegung.

Ihr Bemühen, die sozialen Probleme der Bevölkerung zu lösen, entwickelte sich  immer im Spannungsfeld und im Widerspruch zwischen Anpassen und Wachrütteln, zwischen Helfen und stark Machen, zwischen dem Versuch, die Menschen mit der Gesellschaft zu versöhnen und dem Wunsch, sie mit den Betroffenen zusammen zu verändern.
Dies zeigt sich an sehr vielen Praxis -Beispielen der Vergangenheit und Gegenwart:

Sie hat

  • den Armen dazu verholfen, wieder arbeiten zu gehen und hat sie gleichzeitig an Geschäftsleute verraten, die sie noch mehr ausbeuteten (z.B. schon im Elberfelder System),
  • Kinder und Jugendliche in Heimen aufgenommen. Aber in diesen Einrichtungen gab es nicht gerade selten Gewalt und Missbrauch.
  • allein erziehende Mütter unterstützt, aber ihnen auch beigebracht, sich noch besser zu verkaufen, um endlich wieder arbeiten zu können,
  • sich um  um schwache Schüler bemüht, sie aber gleichzeitig dazu gebracht, sich den  einengenden Strukturen der Schule zu beugen.

Kurz und gut:

Soziale Arbeit ist nicht generell menschenfreundlich aber ebenso wenig grundsätzlich  humanistisch. Sie kann es sein, wenn sich die Professionellen darum bemühen und eine Ethik der Sozialen Arbeit aufrechterhalten, zumindest so weit, wie es durch die Arbeitgeberseite und damit durch die Sozialpolitik zugelassen wird.
Wird in einem Gesellschaftssystem ein humaner Zugang und Umgang mit Menschen nicht forciert oder auch unterdrückt, wird sie zu einer Sozialen Arbeit, die sich von den humanistischen Werten einer ethisch reflektierten Sozialen Arbeit abwendet.
Im Faschismus stand sie auf der Seite des Faschismus, beziehungsweise bediente ihn.

Soziale Arbeit im Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland

Im Rahmen des Sozialstaates der 70er und 80er Jahre emanzipierte sich die Soziale Arbeit in doppelter Weise:

  • Sie entwickelte sich zu einer wissenschaftlich begründeten Profession mit einer eigenen, humanistischen Ethik.
  • Sie definierte sich als lebensweltorientiert und sie verstand ihre Aufgabe als eine, die den Menschen dient, nicht vorrangig dem Staat.

Das in diesen Jahren in einem ca. 30 jährigen Prozess entstandene und diskutierte Kinder- und Jugendhilfegesetz, das 1990 verabschiedet wurde, war ein explizit sozialpädagogisches, demokratisches und menschliches Gesetz.
In dieser Zeit machte sie sich enorme Fortschritte was den Professionalitätsgrad der MitarbeiterInnen im Feld betrifft, was ihre Vielfalt der Themen und Arbeitsanlässe sowie die Zahl der MitarbeiterInnen betrifft.

Prozess der Neoliberalisierung der Sozialen Arbeit

Seit Ende der 80er Jahre bahnt sich eine grundlegende Veränderung an:
Nicht nur die Soziale Arbeit, auch alle anderen bisher als Nonprofitbereiche definierten Felder der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik wurden nach und nach, aber in konsequenter Weise zu neoliberalen Geschäftsmodellen umgebaut. Zuerst wurden die Folgen bei der Pflege und im Gesundheitssystem deutlich. Inzwischen ist auch die Soziale Arbeit nicht mehr wieder zu erkennen. Es geht auch hier nicht um die Menschen, sondern um Geschäfte und Gewinne.Damit verlässt die Soziale Arbeit ihr in den Jahren um 1968 herum entwickeltes humanistisches Selbstverständnis und ihre Orientierung an Menschenrechten und Ethik.

Heute kostet die Jugendhilfe uns Steuerzahler  ca. 27 Milliarden pro Jahr (davon gehen ca. 21 Milliarden in den Kindertagesstättenbereich). Die Hilfen zur Erziehung kosten dagegen ca. 7 Milliarden. Man schleppt dieses demokratische Erbe eines Sozialstaates seit langem unwillig hinter sich her. Man glaubte, eine neoliberale Modernisierung würde Schwung in den Sozialbereich bringen und dazu führen, alte überholte Gewohnheiten hinwegzufegen – aber vielleicht auch alte, teure Verfahren und Regeln loszuwerden. Vielen ist die Jugendhilfe schon lange zu teuer. Sie malten Szenerien einer explodierenden Kostenlawine durch die Erziehungshilfe an die Wand. Sie schielten schon lange nach Wegen, diese für sie fette, gierige Kröte abzuspecken, die ja ohnehin nur den „Mitessern sind am großen Tisch dieser Gesellschaft“ dient.  Die Neoliberalisierung scheint vielen ein willkommenes Tor zu sein, durch das das Abspecken gelingen könnte – und das ganz offensichtlich sogar, ohne Aufsehen zu erregen.
Der Neoliberalismus kam durchaus nicht als Kampfansage gegenüber ethisch standhaften Trägern und Wohlfahrtsverbänden ins Land. Eine große Mehrheit war den neuen Regeln  und Menschenbildern durchaus zugetan. Sie wollten mitmischen beim großen Geldverdienen. Man versprach sich vor allem auch den gesellschaftlichen Anschluss an die sehr viel geachtetere Geschäfts- und Produktionswelt.

Profession ohne Lobby und ohne Selbstbewusstsein

Soziale Arbeit hat kaum eine Lobby. Sie spielt in der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie keine Rolle. Es gelingt nur marginal, Missstände und problematische Tatsachen aus dem Bereich der Sozialen Arbeit öffentlich zu machen. Zugang zu einer breiten Öffentlichkeit scheint man nur über die Skandalisierung von konkreten einzelnen Fällen zu bekommen, die das Gemüt erregen und meistens Jugendhilfe an den Prager stellen.
Heute liegen gerade die Bundestagswahl und der Wahlkampf davor hinter uns.  Die Soziale Arbeit war hier kein Thema, obwohl es intern im letzen Jahr wegen der drohenden „Reform“ des Kinder- und Jugendgesetzes eigentlich hochhergegangen war..
Selbst bei den Linken wurde im gesamten Wahlkampf das Thema Jugendhilfe nicht erwähnt.
Eine Basisbewegung der SozialarbeiterInnen selbst konnte nur in Ansätzen erreicht werden. Im System sind alle gefangen.
Die KollegInnen sind nicht für eine aktive Widerstandsbewegung zu gewinnen. Viele Faktoren spielen hier mit: Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder auch nur der Beliebtheit im Team, Individualisierung der Sozialarbeiter, die es gewohnt sind, Probleme eher individuell zu lösen, die Hoffnung, durch diese sog. Modernisierung den Anschluss an gesellschaftliche Achtung, bessere Bezahlung und Anerkennung zu bekommen. Viele stehen aber auch vor dem Burnout und sind unfähig, sich weiter zu wehren. Noch mehr KollegInnen dürften sich einfach damit abgefunden haben und trennen ihren Job sogar von ihrem sonstigen eher kritisch eingestellten politischen Leben. Und zu all dem kommt erschwerend noch hinzu: Die Profession leidet chronisch an Minderwertigkeitsgefühlen, an mangelndem Selbstbewusstsein und unzureichender professioneller Sicherheit. Das ist eine schlechte Ausgangsbasis für widerständiges Verhalten.
Aber wenn man genau hinsieht: So richtig vermisst wird eine starke politische Bewegung der praktizierenden KollegInnen auch von den Wissenschaftlern, Politikern und Meinungsführer nicht, die ernsthaft für eine andere Soziale Arbeit kämpfen.
So etwas wird den praktizierenden SozialarbeiterInnen oft gar nicht zugetraut. Sie sollen ihre Arbeit machen. Politik machen die , die den Überblick haben usw.
Aus neoliberaler Sicht ist ein denkender Sozialarbeiter gewissermaßen gefährlich. Aber auch kritische WissenschaftlerInnen und Menschen aus der höheren Leitungsebene scheinen von den KollegInnen, um deren Arbeit es ja eigentlich geht, nicht viel zuzutrauen. Für ihre Meinung interessieren sich nicht viele von ihnen.

Bewegung gegen eine neoliberale Soziale Arbeit

Die ersten wissenschaftlichen, kritischen Texte zur sich entwickelnden Neoliberalisiserung entstanden schon in den 80er Jahren. Mancher  brauchte etwas länger, um die Zeichen der Zeit zu verstehen und die Hintergründe zu begreifen. Aber auf die Dauer gelang es aber nicht mehr, den Blick von diesen fortschreitenden Entwicklungen oder besser Fehlentwicklungen abzuwenden.
Und das waren durchaus nicht wenige. Wenn auch die überwiegende Mehrheit stumm blieb und sich nicht wehrte.

Beispiel:
Der Kampf gegen die Neoliberale Reform des KInder- und Jugendhilfegesetzes:
U. a. das 2012 gegründete Bündnis Kinder- und Jugendhilfe für Professionalität und Parteilichkeit hat mit Mahnwachen, Veröffentlichungen, Diskussionen, Blogbeiträgen und vielen öffentlich wirksame Aktionen die politischen Pläne der Regierung zu einer neoliberalen „Reform“ der Kinder- und Jugendhilfe begleitet und versucht, darüber aufzuklären. Es wurde versucht, die eigentlichen Aufgaben und das ethische Verständnis einer humanistische orientierten Sozialen Arbeit, insbesondere Jugendhilfe, den offiziellen politischen Plänen entgegenzustellen.

Der vorläufige Erfolg ist erfreulich. Der Bundesrat hat im September 2017 schließlich die Vorlage zurückgewiesen. Was in der nächsten Legislaturperiode auf die Jugendhilfe zukommt, wird sich erweisen. Die Zielstellung einer Neoliberalisierung wurde zumindest von CDU und  SPD  auf dem letzten Jugendhilfetag in Düsseldorf (Mai 2017) klar formuliert: Man wird nicht von der eingeschlagenen Richtung ablassen.
Der gemeinsame Kampf im Rahmen der kritischen Bewegung der Sozialen Arbeit hat  durch Höhen und Tiefen geführt.  Lange Zeit standen die kritischen Gruppen ziemlich alleine da und keiner wollte ihnen glauben, dass längst geplant war, das KJHG, bzw. das SGB VIII neoliberal auf den Kopf zu stellen. Letztendlich gelang es aber doch, große Teile die Profession samt ihrer Verbände, Träger und Teilen der Wissenschaft zu einer kritischen Haltung der Gesetzesvorlage gegenüber zu bewegen.

Klar ist allerdings, dass der Kampf weitergehen muss.

Und weiter?

Und dennoch sollte man sich über diesen Teilerfolg nicht vorbehaltlos freuen. Das ist noch nicht das Ende der Geschichte.

Zum anderen:Die Kritik fast aller Gegner der Vorlage richtete sich am Ende nur auf bestimmte, ihre jeweiligen direkten Interessen berührenden Aspekte. Die KritikerInnen des Bündnisses Kinder- und Jugendhilfe war in dem gesamten Prozess beinah die Einzigen, die es wagten, systemkritisch an das Problem heranzugehen. Genau an diesem Punkt aber zogen sich die Mitkämpfer zurück, drängten die systemkritischen Leute ins Aus und distanzierten sich.
Alle, die am Ende noch an der kritischen Gegenbewegung beteiligt waren, akzeptieren  letztlich doch mehr oder weniger begeistert und offen die Neoliberalisierung der Jugendhilfe, der Sozialen Arbeit und damit auch aller anderen gesellschaftlichen Bereiche. Sie können sich offenbar eine andere, nicht gewinnorientierte und eben nicht nach dem Modell unserer neoliberalen Wirtschaft aufgebaute Soziale Arbeit weder vorstellen, noch mögen sie an diesen Grundmauern rütteln.

Es ist zu beobachten, dass auch viele traditionelle Kritiker und Bekämpfer der neoliberalen Sozialen Arbeit, in der letzten Zeit peu a peu versuchen, nun doch wieder im Schoße der Gesellschaft zu landen und einen Weg zu finden, die gegebenen Verhältnisse für sich und die anderen zu beschönigen.
Sie versuchen auch dieses Mal wieder, „das Beste daraus zu machen“. Aber das reicht nicht.
Freilich, was sonst könnten sie tun?

Wie kann man in diesen Verhältnissen leben und arbeiten und dennoch kritisch, widerständig, systemkritisch sein?

Der AKS (Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit) formuliert folgende Fragen, deren Beantwortung bei der Bewältigung der gegenwärtigen Lage helfen kann und den Betroffenen trotz ihrer unvermeidbaren Einbindung in das System dennoch dabei helfen dürfte, kritisch und widerständig zu bleiben und im gegebenen Arbeitsleben zu überleben:

  • „Wie können wir uns als Akteur_innen Sozialer Arbeit in und zu diesen
    Verhältnissen positionieren?
  • Was können wir Ein- und Ausgrenzungen entgegensetzen?
  • Wie kann Soziale Arbeit so gestaltet werden, dass sie nicht so sehr Teil
    dieser Prozesse von Ein- und Ausgrenzung wird?
  • Welche professionellen Strategien oder Haltungen sind hierfür
    erforderlich bzw. hilfreich?“ (Einladung zum Bundeskongress 2017).

Sicherlich: Der Blick der  in der Sozialen Arbeit Tätigen muss sich auf die Bewältigung des beruflichen Alltags richten. Schließlich macht es keinen Sinn, wenn auf einmal die heute tätigen   Tausend Sozialarbeiter dieses Feld frustriert verlassen.
Gleichzeitig halte ich es aber für genauso wichtig, weiterhin die politische Lage zu analysieren, einschließlich der eigenen Eingebundenheit natürlich, aber sich gleichzeitig der Tatsache bewusst zu werden, dass Soziale Arbeit innerhalb dieses Systems nie wirklich und vorbehaltlos  humanistisch und menschenfreundlich sein kann.

Es ist nicht anzunehmen, dass in einer nicht-kapitalistischen Welt  Soziale Arbeit überflüssig würde. Aber sie wäre anders und könnte sich auf die Probleme der Menschen konzentrieren und auf die sie tragende Gesellschaft – ohne Kollateralschäden einer  auf Gewinne und nicht auf Menschen orientierten Welt möglichst Kosten neutral beseitigen oder verschleiern zu müssen.

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Armut, Kapitalismus, Schöne neue Welt, System abgelegt und mit , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert