Was die Sivesterkracher mit dem Great Reset zu tun haben

Gedanken in Corona-Zeiten (1)

Einen Tag nach Silvester…
Als ich am Tag nach Silvester mit dem Hund durch unser Dorf ging, kam ich mit einem Mann ist Gespräch. „Also wirklich, ich bin so froh gewesen! Die Knallerei war dieses Jahr endlich erträglich. Man hatte seine Freude an der einen oder anderen farbenfrohen Rakete, 10 Minuten hat es geknallt – dann war Ruhe und das neue Jahr fing in Frieden an. So habe ich mir das schon seit Jahren gewünscht.“

Ich sah ihn an und wartete auf die Fortsetzung dieser Geschichte. Und sie kam:
„Traurig ist nur, dass sowas erst mit Corona geht. Wir müssen offensichtlich dazu gezwungen werden, vernünftig zu sein!“
Ich lächelte und bemerkte, dass ich mich auch über die besänftigte Silvesterknallerei gefreut hätte – nicht zuletzt auch mein Hund.
Was hätte ich erwidern sollen? Er hat ja recht. Viele Menschen erleben die Corona Zeit als Entspannung, Entschleunigung und als Wiedergewinnung alter Werte. Diese Menschen blicken nach vorne in der Hoffnung, dass nach Corona alles besser sein wird, ja, dass Corona dazu beitragen könnte, das alte ungeliebte „Höher, Schneller, Weiter“ des Neoliberalismus zu überwinden …..
Der Glaube, dass Corona Schluss mache mit dem Irrsinn des „Höher, Schneller, Weiter“, wird auch medial stark unterstützt. Die Medien sind voll von Jubelberichten über solidarische Aktionen, Nachbarschaftshilfe und ein neues, wiedererwachtes Gemeinschaftsgefühl. Die durch die Corona-Maßnahmen aktuell bestehenden Chancen auf Entschleunigung, auf die Möglichkeit, wieder zu sich selbst zu kommen, die Solidarität wiederzuentdecken, sich wieder alten, aber inzwischen durch den Stress verdrängten Tätigkeiten und Hobbys zuzuwenden usf.  werden jedoch gegen die massiven Kollateralschäden ausgespielt.
Die aber sind beträchtlich: Ein anderer Teil der Bevölkerung, der medial allerdings mehr in den Hintergrund gedrängt wird, sind diejenigen, die durch Corona tief gefallen sind, deren Existenz bedroht ist, deren Psyche belastet ist, deren Bildung in Gefahr ist, die soziale, kulturelle Verluste erleben, die sich einsam und verlassen fühlen und an der Rauheit der sogenannten Schutzmaßnahmen leiden – und zwar gegen Achtsamkeit und Menschenwürde. Und dies Menschen sind nicht wenige.
Neulich hörte ich den 17jährigen Sohn einer Freundin stöhnen: „Corona raubt mir meine Jugend.“ Er sitzt den ganzen Tag am PC und vermisst die wirklichen Treffen und Gespräche mit seinen Freunden. Das sei doch etwas völlig anders, etwas Lebendiges, wo man spürt, dass die anderen da sind.
Laut Untersuchungen sind etwa die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen zurzeit mit ihrem Leben unzufrieden. Vor Corona waren 96 % mit ihrem Leben zufrieden.

Dennoch. Corona hat auch Positives gebracht: Weniger Verkehrsunfälle, sauberere Luft, mehr Zeit für die Familie, Stop der umweltzerstörenden Tourismusströme usw. Und wie der Mann, der sich über das besänftige Silvestergeknalle gfreut hat, müssen feststellen, dass es scheinbar nötig ist, die Menschen mit Verordnungen und Strafandrohung zu zwingen, vom „Höher, Schneller, Weiter“ abzulassen, sie also zu ihrem Glück zu zwingen. Alleine kriegen sie es offenbar ja nicht hin.

Bedeutet progressiver Neoliberalismus Humanismus?

Mich erinnert das an die schon vor Corona erlebte Tendenz des progressiven Neoliberalismus und grünen Kapitalismus. Laut Nany Fraser stehen im seit etwa 30 Jahren existierenden progressiven Neoliberalismus „progressive Kräfte faktisch im Bündnis mit den Kräften des kognitiven Kapitals, insbesondere der Finanzialisierung. Erstere borgen dabei, ob unbewusst oder auch nicht, den Letzteren ihr Charisma… Somit verbindet der progressive Neoliberalismus verkürzte Emanzipationsideale mit gefährlichen Formen der Finanzialisierung.“
In der Zeit vor Corona konnten wir zum Beispiel erleben, wie sich die Mächtigen und ein Teil der Wirtschaftskräfte mit einem Mal auf die unbedingte Förderung des Umweltschutzes orientierten.  War Greta in Davos nicht genau das, was Nacy Fraser beschreibt? Im Sommer wird es in diesem Sinne in Davos weitergehen.
Ich aber bin verwundert und frage mich, warum sie das tun. Sind sie nicht mehr an ihrem Profit, sondern neuerdings am Glück der Menschheit interessiert? Oder wollen sie an dieser Entwicklung doch nur schlicht Geld verdienen? Tatsächlich gibt es doch weiterhin bei denen, die das große Geld haben, Interesse an Profit, an Warenabsatz, an endlosen Neuproduktionen, an ständigem Wachstum, an der immer weiter getriebenen Steigerung von Entwicklung und Leistung. Man denke an den Versuch von Politik und Industrie,mit aller Macht die E-Mobilität durchzusetzen. Man kann kaum glauben, dass es hier nur um Umweltschutz geht. Hier soll ein neuer Markt für die Autoindustrie eröffnet werden.
Und doch ist die Tendenz gerade der herrschenden Kreise, das „Höher, Schneller, Weiter“, tatsächlich zu bremsen, unüberhörbar. Ich denke nur an die Geschichte vom Great Reset.
Gibt es also vielleicht noch einen anderen, elementareren Grund dafür, dass sich plötzlich die herrschenden Kräfte im Kapitalismus (zumindest ein Teil von ihnen) die Verantwortung für die Ressourcen der Welt selbst auf die Fahnen schreiben?

Dass es mit dem grenzenlosen Wachstum nicht ewig gut gehen würde, ist für denkende Menschen schon lange klar. Der Glaube an „Höher, Schneller, Weiter“ liegt keineswegs in der Natur der Menschen. Er wurde ihnen durch die neoliberale Wirtschaft und Ideologie seit Jahrzehnten eingebläut und ihnen als die große Freiheit verkauft.
Und jetzt zieht also plötzlich die Seite, die bis dato die Menschheit zu dieser neoliberalen Ideologie und Lebenspraxis gezwungen hat, selbst die Reißleine? Wollen sie ihrerseits nun selbst verhindern, dass unsere schöne Welt vor die Hunde geht?
Inzwischen singen die Spatzen das Lied vom „Great Reset“ von den Dächern. Manche werfen dem Vater des Great Rest, Herrn Schwab, sogar vor, einen sozialisitischen Kapitalismus“ einführen zu wollen. Handelt es sich hier etwa um eine Verschwörungstheorie? Keineswegs, denn sie wird offen vorgestellt und diskutiert. Und viele sehen darin eine große Chance. Die kapitalistische Welt soll umgebaut werden: ressourcenfreundlicher, umweltfreundlicher, sozialer, … und vor allem digitaler….
Was also ist da los? Sollen wir froh darüber sein?
Ist der Kapitalismus auf einmal humanistisch geworden? Jedenfalls wäre das doch eine erfreuliche Interessengleichheit zwischen Kapital und Menschen (genau, wie sie der progressive Neoliberalismus verspricht).

Die Ankündigungen der Tagesordnung in Davos im Sommer, machen klar, dass sie sich tatsächlich als die treibenden Kräfte einer solchen Erneuerung betrachten. Es sieht so aus, als wollten sie die Verantwortung für die Weltbevölkerung und die Welt übernehmen, d.h., die Menschen dazu zwingen, wieder Haus zu halten mit ihren Ressourcen etc.
Aber warum? Trauen die Herrschenden jetzt, nachdem selbst sie offenbar sehen, wohin dieser Neoliberalismus die Menschheit führt, der Bevölkerung, den Menschen, der Demokratie nicht zu, vernünftig zu sein? Und streben sie deshalb etwas an wie einen „Reset von oben“ an, eine Diktatur der herrschenden wirtschaftlichen Kräfte, aber eben gleichzeitig eine von oben gesteuerte Diktatur der Vernunft, eine Diktatur des wie auch immer aussehenden Humanismus? Meinen sie also, die Menschen in ihrem eigenen Interesse zwingen zu müssen zu ihrem Glück?
Und daran schließt sich für mich die Frage an: Ist das alles, was wir in dieser Richtung erleben, also nur ein Erziehungsprogramm?

Erziehung des Volkes?

Aber ich möchte nicht erzogen werden, von niemand und auch dann nicht, wenn die Erziehungsziele mir entgegenkommen. Ich persönlich ziehe eine Welt vor, in der die Menschen selbst und gemeinsam bestimmen, wo‘s langgehen soll. Ich will nicht durch eine starke Obrigkeit erzogen und geführt werden, weder durch einen Kaiser noch durch einen Tribun, noch durch irgendwelche Minister oder Experten usw. Ich will die Autonomie des freien Menschen und die unbehinderte Möglichkeit, mich mit den anderen demokratisch zu einigen.
Ich gebe zu, dass große Teile der Bevölkerung heute durch die erzwungene Jagd nach Erfolg, immer größerer Leistung und immer größerer Selbstvermarktung darum gebracht worden sind, die Gefahren der „Höher, Schneller, Weiter“-Ideologie zu erkennen und entsprechend ihren Lebensstil zu verändern. Es herrscht zunehmend eine allgemeine, gezielte Verdummung der Menschen gefördert durch die aggressive Werbung, durch oberflächliche, selektive Information der Medien, durch die Stimulation zu Konsum unter dem Vorwand einer dort erreichbaren Individualität.
Mir kommt es manchmal so vor, als würden viele Menschen froh sein und sich dadurch entlastet fühlen, dass eine starke Führung gibt, die Ihnen Verantwortung abnimmt und ihnen sagt, was zu denken und zu tun ist nach dem Motto: ‚Demokratie bringt ja nichts, verhindert schnelle und oft auch richtige Entscheidungen. Und mal ehrlich? Sind wir vielleicht Experten? Das wissen die alle doch viel besser.‘
Die Beliebigkeit massenhafter Informationen, Fake-News, das ständige Aufbauschen von dramatischen Ereignissen machen die Menschen mürbe, ängstlich und unsicher. Sie sind unzufrieden mit dieser Situation und suchen, wie es scheint, einen starken Führer. Zu den Zumutungen, genannt Herausforderungen, die die Regierung von uns allen verlangt, verhalten sich die meisten genauso, wie sie die Straßenverkehrsordnung hinnehmen oder das Finanzamt.

Und nun soll es einfach weiter gehen nach der Devise weitergehen: ‚Erst machen wir sie dumm, dann erziehen wir sie um?‘?
Es ist nicht gelungen, alle Menschen dumm zu machen. Es sind gar nicht wenige, die sehr wohl Wert auf die Fortsetzung der Demokratie und auf die menschliche Freiheit legen.

Die Mär vom guten Herrscher

Man könnte gegen meine Bedenken einwenden: ‚Aber wenn es doch nutzt, wenn auf diese Weise die großen Probleme der Menschen wie Umweltzerstörung, Epidemien, Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit beseitigt würden? Ist das dann nicht wertvoller, als die kleine persönliche Freiheit des einzelnen?‘
Ja, wir kennen sie gut, die Mär vom guten Unternehmer, dem gnädigen Herrn, dem mildtätigen König … Sicher gab es auch mal „gute Könige“, unter deren Herrschaft es dem Volk gut ging. Aber häufiger brachten sie Despotismus und Ausbeutung für das Volk. Erfahrung mit realen Diktaturen zeigen, dass es eine solche humanistische Diktatur sehr selten gab. Warum sollte es ausgerechnet der gute alte, bewährte Raubtierkapitalismus sein, der hier zum Vater aller Menschen mutiert. Frisst er nicht nur Kreide?
Wie sieht es denn aus mit den Plänen des Great Reset und wie mit der Realität, die uns erwarten würde: Gibt es irgendein Anzeichen dafür, dass mit der angekündigten, neuen verantwortungsvollen, vernünftigen, humanistischen Lenkung von oben dann auch etwas getan werden soll für die Entfaltung der Menschen als Persönlichkeiten, gegen die politische Apathie und Verdummung, gegen den Mangel an Denkfähigkeit und Bildung, gegen das Duckmäusertum, gegen die Einengung des Gedankenkreises auf das, was man ihnen vorbetet und gibt es Chancen für die Menschen, sich selbst zu bestimmen…?

Das Ursprungsinteresse des Kapitalismus hat sich sicher nicht geändert. Es dreht sich noch immer um Kapital-Akkumulation, um Profit und auch vor allen Dingen um Macht und darum, sie und den eigenen Reichtum zu erhalten. Und vielleicht liegt hier der Grund für die neue Einsicht: Eine Welt, die aus den Angeln geht, weil man sie selbst vor die Wand gefahren hat, ist auch für die Herrschenden dieser Welt ziemlich wertlos.

Wie steht es mit Corona?

Wir sehen jetzt schon bei den Maßnahmen der herrschenden Politik zu Corona:
Trotz aller Versprechen, zum Schutz und im Interesse der Menschen zu handeln, haben sich die autoritär entwickelten und durchgesetzten Maßnahmen losgelöst von denen, um dies geht. Es gibt null Beteiligung. Bei der Entstehung der Maßnahmen wegen Corona im Frühjahr 2020 wurde ausschließlich medizinisch biologisch – ja nicht einmal epidemiologisch – gedacht. Es wurden keine Sozialwissenschaftler oder Psychologen zur Beratung hinzugezogen – und schon gar nicht die Betroffenen. Die demokratischen Mitspracheebenen wurden übergangen. Die Schutzmaßnahmen werden nicht wie helfende, stützende, schützende Maßnahmen an die Bevölkerung herangetragen, sondern als Strafaktion durchgesetzt. Die Maßnahmen sind – auch unterstellt, der angenommene Gefährdungsgrad von Corona wäre eine angemessene Einschätzung – zum Teil völlig unsinnig, zutiefst bürokratisch und ähneln Schikanen. Auch im Falle der Pandemie: Die Menschen müssen offenbar auch hier zu ihrem Glück und zu Verhältnissen, die ihnen nützlich sind, gezwungen werden.
Wenn es sich hier um den Beginn bzw. die Beschleunigung einer Weltreform von oben (und das genau beansprucht der „Great Reset“ von sich) handeln sollte, dann geschieht diese bereits jetzt ohne Beteiligung der betroffenen Menschen.


Das Thema ist nicht neu…

Seit Beginn der Corona-Maßnahmen muss ich an die Erzählung von Dostojewskij denken, in der eine Begegnung zwischen Jesus und dem Großinquisitor beschrieben wird. Sie streiten um den Weg, wie die Menschheit zu behandeln sei und wie sie ihr Glück finden könne. Jesus möchte die Menschen freigeben zur Eigenverantwortung. Er glaubt an ihre Fähigkeit, gemeinsam richtige Wege zu beschreiten und aus Fehlern zu lernen. Der Großinquisitor dagegen möchte die Menschen wie kleine Kinder behandeln, die sich seinen Befehlen und Wünschen blind unterwerfen und ihm dankbar sind, dass er ihnen jede Verantwortung abnimmt.

Liest sich sehr spannend und ist hoch aktuell:
Dostojewskij: „Die Brüder Karamasow“, Kapitel 5 „Der Großinquisitor“ . Die Handlung spielt in Spanien, in Sevilla, in der furchtbarsten Zeit der Inquisition, als zum Ruhme Gottes täglich die Scheiterhaufen loderten.

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