Es war schon vor Corona nicht ganz einfach, Menschen zu treffen, die wirklich eine Veränderung der Welt anstrebten. Ich denke nicht an Veränderungen im Bezug auf das, was uns der progressive Neoliberalismus an Fortschrittlichkeiten (das konsequente Gendern, die Multigesellschaft, Emanzipation, Frauen in Vorständen von Konzernen usw.) verspricht (vgl. hierzu z.B. Häring), sondern an ökonomische Veränderung und eine reale Veränderung der Machtverhältnisse. Jetzt, in Corona-Zeiten, ist es beinah unmöglich, einen Menschen anzutreffen, der sich als links denkend definiert, aber nicht gleichzeitig in die allgemeine, alternativlose Gläubigkeit einstimmt, was die Haltung der Regierung zu der Corona-Pandemie betrifft. Nein, nicht nur die Partei, die sich so nennt, auch wirklich sozialistisch und marxistisch denkenden Menschen treffe ich kaum bei denen an, die die bestehenden Corona-Maßnahmen kritisch betrachten. Im Gegenteil.
Sicher gibt es inzwischen einige Leute, die merken, dass bei den angeordneten Corona-Maßnahmen Schieflagen vorkommen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders betroffen sind, und uns infolge der Corona-Lockdowns eine schlimme Finanzkrise droht. Auch die Einsicht, dass manche Maßnahme wirkt, als hätte sie sich ein Schulkind ausgedacht, wird inzwischen von vielen Menschen geteilt. Allerdings bleiben sie trotzdem alle treu bei ihrer Solidarität mit den Verantwortlichen der Regierung und ihrer Institutionen und fühlen sich generell gut geschützt.
Mich erinnert das an Katholiken, die trotz des erlebten Missbrauchs des eigenen Kindes durch einen Internatspriester, der Kirche die Treue halten. Wie das? Ja warum eigentlich? Weil die eben von oben eingesetzt ist und unfehlbar – und unsere einzige Rettung in der schrecklichen Welt von Corona sozusagen?
Aber immerhin, ich freue mich auch über solche Leute, die wenigstens die Gefahren der Kollateralschäden sehen und sich eine besser durchdachte, und sozialwissenschaftlich durchgearbeitete Maßnahmenstruktur wünschen.
Dennoch, von linken Menschen würde ich mehr erwarten! Die Tatsache, dass fast alle Linken, auch die, die es ehrlich meinen, Corona einfach als Naturkatastrophe hinnehmen aber als politisches Thema ignorieren, diese Tatsache macht mich schwindelig in meinem alten linken Kopf.
Natürlich haben sie Recht, wenn sie feststellen, dass Corona und die Maßnahmen der Regierung in Bezug auf soziale Fragen nicht ausgleichend, sondern vielmehr massiv verstärkend wirken. Aber sich darauf zu beschränken, einen gerechten Ausgleich der Kollateralschäden anzustreben, das finde ich angepasst und bestenfalls sozialdemokratisch. Wäre es nicht für jemanden, der dem bürgerlichen, dem neoliberalen Staat bisher nicht so einfach über den Weg getraut hat, angemessen, auch hier, in Sachen Corona, der herrschenden Politik auf die Finger zu sehen?
Den beiden alten Damen oben im Cartoon fällt wohl inzwischen auch so einiges merkwürdige an den „Schutzmaßnahmen“ auf, die die alten Menschen wegsperren, statt sich präventiv um ihr seelisches und körperliches Wohl zu kümmern. Das soziale Leben und die Wirtschaft der kleineren Unternehmen werden lahmlegt und die Bedürfnisse der Menschen an Kultur Bildung, Erholung und psychische Gesundheit der Bürger abwürgt. Und so fragen sie sich beklommen, ob es bei diesen Maßnahmen wirklich nur um die alten Menschen geht. Vermutlich erinnern sie sich noch gut, dass sich vor Corona diese Gesellschaft nicht allzu sehr um die Alten gekümmert hat. Wieso jetzt?
Ich kann versuchen, die Folgen der Corona-Maßnahmen sozial abzufedern. Ich kann mich aber auch fragen, ob diese Folgen sein müssen. Und ich kann auch noch weiter fragen.
Der Protest gegen die derzeitigen Corona-Maßnahmen ist tatsächlich zunächst kein linker Kampf. Es führen ihn im wesentlichen Bürger der Mittelschicht an, die sich um ihre Rechte, um die Verfassung, um ihre Freiheit betrogen sehen. Der Anteil Rechter oder rechts denkender Leute ist dagegen vergleichsweise gering, wenn sie auch versuchen, sich in den Vordergrund zu drängen, bzw. wenn unsere Medien alles dafür tun, sie in den Vordergrund zu rücken.
Bei den bürgerlichen Kräften sind meines Wissens viele dabei, die die ungeheuerlichen Kollateralschäden nicht nur für sich, sondern vor allem auch für die Bevölkerung verhindern wollen, die es am stärksten trifft. Sie als egozentrisch zu bezeichnen, ist völlig daneben. Sie begnügen sich nicht damit, die Schäden gerechter verteilen zu wollen, sie fragen danach, ob diese Schäden gerechtfertigt sind.
Aber klar: Sie haben mehrheitlich ganz sicher keinen revolutionären, antikapitalistischen Gedanken dabei im Kopf. Wenn es um die Frage des politischen und ökonomischen Systems ginge, wären sie kaum mit mir auf einer Seite.
Aber wer die Corona-Maßnahmen mit all ihren Kollateralschäden, die kurz, mittel und unabsehbar langfristig auf uns warten, einfach schluckt und denen bedingungslos glaubt, die ihre Maßnahmen, ihre Wahrheiten und wissenschaftlichen Meinungen für alternativlos halten, aber gleichzeitig – und ich möchte fast sagen „trotzdem“ – an der politischen Corona-Problematik vorbei unbeirrt weiter linke Ziele zu verfolgen sucht, der setzt sich auf einen Ast, der über kurz oder lang unter und mit ihm herunterbrechen wird.
Bürgerliche Rechte, die Freiheit, sich in Menschenwürde zu entwickeln und verhalten zu dürfen, demokratische Handlungsmöglichkeiten, die Einfluss und Wirkung im gesellschaftlichen Geschehen haben, Solidarität aber auch Toleranz, das sind Voraussetzungen dafür, dass der Boden, damit eine linke Bewegung überhaupt entstehen und nachhaltig wirken kann.
Wer der massiven Entmündigung der Bevölkerung und dem Aussetzen ihrer politischen und sonstigen Rechte zuschaut, ohne nach der Berechtigung und der Angemessenheit der zugrundeliegenden Maßnahmen überhaupt nur zu fragen, der handelt nicht nur unkritisch, sondern auch Kapitalismus freundlich. Denn er lässt es zu, dass mit dem Stichwort „Corona“ die alte politische „Soziale Frage“ des kapitalistischen Systems, der Kampf der Beherrschten gegen die sie Beherrschenden, der Kampf gegen ein ökonomisches und politisches System, dass alles andere ist, als ein menschenfreundliches – einfach und endgültig unter den Tisch gekehrt wird.
Und ich frage mich, liebe linke Brüder und Schwestern – wo sehen wir uns am Ende schließlich wieder?