Vom Seminar, das ich leider nicht gehalten habe.
Als ich 1968 anfing mit meinem Psychologiestudium, war ich ein noch relativ unpolitischer Mensch. Das hatte sich in den nächsten Jahren durch die politischen Umwälzungen an den Universitäten geändert. Ich wollte, wie so viele, die Welt verändern.
Unter meinen neuen Freunden und linken GenossInnen galt damals die Soziologie als die Wissenschaft mit der größten politischen Relevanz. Die Psychologie dagegen sah man eher kritisch, nannte sie bürgerlich und hielt nicht viel von ihr.
Damit konfrontiert, musste ich mir überlegen, wieso ich dennoch Psychologin werden wollte. Ich gab dem Gruppendruck ein wenig nach und wählte Soziologie als Nebenfach. Aber Psychologie, das wurde mir immer klarer, studierte ich deshalb, weil ich die Menschen immer schon als konkrete, handelnde, anfassbare Wesen gesehen habe, und die Soziologie von diesen lebenden Wesen in ihrer Abstraktheit abzusehen schien. Immerhin gab es ja auch die Sozialpsychologie: Ich promovierte über die Veränderungen politischer Einstellungen.
Dabei habe ich nie geglaubt, die Welt mit den Mitteln der Psychologie verändern zu können. Aber politische Veränderungen sind ohne die Veränderungen der Einstellungen der Menschen nicht denkbar.
Ich blieb also meinem Fach treu.
Aber als ich nach dem Studium überlegte, ob ich die Einzelfallarbeit gehen sollte (Erziehungsberatung), waren die damaligen Genossen empört. Nur der GWA-Ansatz schien den politischen Ansprüchen zu genügen. Aber ich sah als Psychologin die Menschen ja auch im Kontext ihrer Lebenswelt und machte mir nichts aus diesen Vorwürfen.
In meiner späteren der Beratungs- und Therapiepraxis allerdings kam ich immer wieder an Grenzen, an denen ich mich allein mit meinem psychologischen Wissen und den entsprechenden Wirkungsmöglichkeiten hilflos fühlte. Die Psychologie griff mir einfach nicht weit genug. Sie blendete zu oft die Wirklichkeit der Menschen in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen aus. Sie hatte auch keine Handlungs-Möglichkeiten, Menschen vor ihrer gesellschaftlichen Umwelt zu schützen oder auch nur ihre gesellschaftliche Situation zu verbessern.
In der ÖTV in Krefeld lernte ich damals Sozialarbeiterinnen kenne. Bis dahin hatte ich mir unter diesem Beruf nichts vorstellen können. Jetzt wurde mir klar, dass die Sozialarbeit an den mir gesteckten Grenzen nicht halt machen musste und es auch nicht tat. Der Mensch und seine Lebenswelt waren für meine Sozialarbeiterinnen eine untrennbare Einheit. Das faszinierte mich.
Eine solche ganzheitliche, persönliche und gleichzeitig gesellschaftspolitische und gesellschaftliche Sicht kannte ich bisher nur aus der Belletristik. Denn hier hatten Menschen immer einerseits ihren konkreten Charakter und ihre eigene Biografie und gleichzeitig ein sie umspannendes und beeinflussendes gesellschaftliches Umfeld. Die Schilderung des Alkoholikers in Dostojewskis „Brüder Karamasoff“, der „Untertan“ von Heinrich Mann… aber am allerbesten „Ditte Menschenkind“ von Andersen Nexö, das sind literarische Gestaltungen, in denen die Schicksale der geschilderten Menschen mit ihrer Lebenswelt total verbunden sind – und das in keiner Weise aufgesetzt, belehrend oder analysierend. Die Schilderung von Ditte z. B. beinhaltet neben der psychologisch genauen und einfühlsamen Darstellung dieser kleinen Person gleichzeitig die Schilderung der sie umgebenden gesellschaftlichen Faktoren, die das Kind und seine Entwicklung beeinflussen und prägen. Beides erscheint als Einheit, als notwendige Einheit und wird lebendig in dem konkreten Kind Ditte.
Ein Fach, eine Profession, ein Beruf, der Menschen in dieser Einheit begreift und behandelt, der machte mich neugierig. Ich begann als Externe – in Abstimmung mit meinem damaligen Arbeitgeber, dem Jugendamt in Wiesbaden – ein Studium der Sozialen Arbeit in Frankfurt am Main. Und ich genoss es in vollen Zügen. Für jemanden, der voll in der Praxis integriert ist, bedeutet es einen Hochgenuss, z.B. einen ganzen Nachmittag über einen konkreten Fall debattieren zu dürfen. Dafür hat man in der Praxis manchmal gerade mal eine Viertelstunde….
Endlich war ich also da angekommen, wo mein Menschenbild zu Hause war.
Aber so eindeutig war und ist das dann doch nicht.
Als ich in den 70er Jahren im Team eines Jugendamtes fragte, ob die MitarbeiterInnen in einem konkreten Fall denn wüssten, wo genau in der Stadt eine bestimmte Familie wohne, wurde mir im Brustton der Überzeugung mitgeteilt, dass man das gar nicht wissen wolle, damit man möglichst neutral und vorurteilsfrei an die Familie herantreten könne. Der Beruf der Eltern wurde ebenfalls absichtlich nicht erfasst. Ich war entsetzt. Doch das ist schon lange her.
Dann aber erschien 1978 der 8. Jugendbericht und formulierte die Maxime einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. In den Folgejahren entfaltete sich die Theorie der Lebensweltorientierung und zunehmend wurde der ganzheitliche Blick auf die Klientel in der Sozialen Arbeit selbstverständlich (ob es überall so war, ist allerdings nicht bekannt).
Heute gilt die Lebensweltorientierung vielen als veraltet und unmodern.
In der Theorie gab es auch früher schon Bedenken, die Lebensweltorientierung (etwa nach Thiersch) sei gar nicht wirklich emanzipatorisch und politisch. Man stellte die These auf, sie würde letztlich doch nur die Individualisierung vorantreiben.
Im Zeitalter des Neoliberalismus stellen sich die Fragen nach den gesellschaftlichen Ursachen kaum noch. Probleme werden an dem Versagen oder dem Unwissen der Menschen selbst festgemacht. Jeder ist für seine Probleme selbst verantwortlich. Der Hinweis auf gesellschaftliche Ursachen ist eher verpönt und wird weggeschoben.
Auch die KollegInnen, die sich derzeit mit Blick auf das scheinbar verheißungsvolle Projekt „Sozialraumorientierung“ gegen die Einzelfallarbeit aussprechen und die alte Gemeinwesenarbeit als einzige Soziale Arbeit ansehen, die Veränderungspotential in Bezug auf die Lebensbedingungen von Menschen hat, haben dennoch oft sehr kleinmütige Vorstellungen von gesellschaftlichen Bedingungen und Hintergründen. Nicht die Armut wird angeprangert, sondern es werden Ideen entwickelt, wie Menschen mit ihrer Armut klar zu kommen können. Nicht die Misere des deutschen Bildungswesens wird als Ursache von manchen schulischen Problemlagen erkannt, sondern es werden kleine, im konkreten Fall vielleicht hilfreiche aber nur punktuell und symptomatische Lösungen erarbeitet.
Da lobe ich mir doch die gute alte Lebensweltorientierung, die zumindest immer klarstellte, dass der Mensch als soziales Wesen gesellschaftlichen Bedingungen ausgesetzt ist.
Diese Erkenntnis als Basis für eine fachlich fundierte und professionell erarbeitete und erfahrene Gesellschaftskritik würde der Sozialen Arbeit nicht schlecht stehen.
Als ich 1993 in Jena als Professorin anfing, hatte ich die Idee, ein Seminar zu veranstalten, dass den belletristischen Lebensweltansatz mit den speziellen Möglichkeiten und Wahrnehmungen der Sozialen Arbeit verglich. Daraus ist leider nichts geworden, denn von mir als Neuling wurden erst einmal Seminare zur Methodenlehre und andere im Lehrkanon festgeschriebenen Themen erwartet.
Schade eigentlich, denke ich heute.
Wir alle hätten von einem solchen Seminar sicher viel lernen können, die Studierenden und auch ich.