Was ist Heimat

Heimat –
ein verdächtiger oder ein menschlicher Begriff?

Das Wort Heimat scheint in Deutschland verpönt. Viele denken dabei an den Nationalsozialismus, an Deutschtümelei, an kitschig gesungene Volkslieder, an neue oder unverbesserliche Rechte …
Das Wort Heimat scheint als rückwärts gerichtete Vorstellung einer nationalstaatlich unterteilten Welt. In Zeiten der Globalisierung, in Zeiten der Vielfalt und Buntheit, in Zeiten , wo doch jeder eigentlich überall zu Hause ist, gilt es als rückschrittlich, unmodern, kleinkariert, hausbacken.
Seit der Migrationswelle ist das Wort Heimat fast zum Tabu geworden. Das Wort Heimat wird von denen genutzt, die gegen Ausländer sind, die Deutschland nur für sich haben wollen, die sagen „Ausländer raus“, die die germanische Rasse in den Himmel heben und die „stolz sind, ein Deutscher zu sein“ …
Kurz um: Wer heute von Heimat spricht, macht sich verdächtig, der AfD nahe zu stehen, ein Rechter, ja ein Nazi zu sein.

Dusiburger Hafen

Ich bin durchaus der Meinung, dass es das Recht eines jeden Menschen ist, sich auf der Welt ein neues zu Hause zu suchen, wenn seine eigentliche Heimat, in der er aufgewachsen ist und gelebt hat, für ihn nichts bietet als schlechte und unerträgliche Lebensbedingungen.
Ich bin aber vor allem der Meinung, dass jeder Mensch ein Recht hat auf eine Heimat, die ihm hinreichende Lebenschancen ermöglicht und sichert. Wer diese Chancen für ihn zerstört – sei es die herrschende Klasse in seiner Heimat, seien es Unruhen zwischen Bevölkerungsgruppen oder sei es die westlich kapitalistisch orientiert Wirtschaft, die seine Heimat aussaugt und ihre Lebensbedingungen zunichte macht – der ist schuld an der Tatsache, dass der Mensch seine Heimat verlassen will und muss.



Und schließlich habe ich selbst eine Heimat und bestehe darauf, dass sie meine Heimat ist. Ich will sie nicht vor anderen verschließen und sehe mich nicht als Besitzer dieser Heimat. Ich liebe sie, so wie alle Menschen das Land und die Lanschaft lieben , mit der ihre Identität verbunden ist. Und weil ich sie liebe – mit all ihren dunklen Seiten und all ihren Schönheiten, möchte ich sie weder verlieren noch zerstört finden.

Ich rede nicht vom Staat Deutschland, nicht von der 4. größten Wirtschaftsnation der Welt, vom zeitweiligen Exportweltmeister, von „made in Germany“. Und wenn ich Heimat sage, dann distanziere ich mich ohne Rückhalt von den Verbrechen der Nazis. Aber ich meine auch nicht das Deutschland, in dem sich heute die Bevölkerung, mit aller Naivität dem Neoliberalismus und aktuell der Willkür der staatlichen Corona-Maßnahmen unterwirft. Ich liebe auch nicht das Deutschland, das wieder eine starke Militärmacht sein will und vorgibt, nur Brunnen zu buaen.
Ich spreche von Deutschland als meiner Heimat. Und da meine ich vor allem die Gegend, in der meine Augen die Linien des Horizontes begrüßen, wo mir die Sprache der Menschen freundlich in den Ohren klingt, wo ich mich auskenne, mir meiner sicher bin, wo ich sage, hier bin ich zu Hause.
Sehr viel besser als ich, konnte das, was ich meine, wenn ich von Heimat spreche, Kurt Tucholsky sagen.

bei Münster in Westfalen
neue Heimat Brandenburg

Heimat

Nun haben wir auf vielen Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja –: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland.

Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen.

Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern –? Es gibt so schöne.

Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache – wir sagen ›Sie‹ zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn – aber es ist nicht das.

Es besteht kein Grund, vor jedem Fleck Deutschlands in die Knie zu sinken und zu lügen: wie schön! Aber es ist da etwas allen Gegenden Gemeinsames – und für jeden von uns ist es anders. Dem einen geht das Herz auf in den Bergen, wo Feld und Wiese in die kleinen Straßen sehen, am Rand der Gebirgsseen, wo es nach Wasser und Holz und Felsen riecht, und wo man einsam sein kann; wenn da einer seine Heimat hat, dann hört er dort ihr Herz klopfen. Das ist in schlechten Büchern, in noch dümmeren Versen und in Filmen schon so verfälscht, dass man sich beinah schämt, zu sagen: man liebe seine Heimat. Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt … nein, wer gar nichts andres spürt, als dass er zu Hause ist; dass das da sein Land ist, sein Berg, sein See, auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt … es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land. Wir lieben es, weil die Luft so durch die Gassen fließt und nicht anders, der uns gewohnten Lichtwirkung wegen – aus tausend Gründen, die man nicht aufzählen kann, die uns nicht einmal bewußt sind und die doch tief im Blut sitzen.

Wir lieben es, trotz der schrecklichen Fehler in der verlogenen und anachronistischen Architektur, um die man einen weiten Bogen schlagen muß; wir versuchen, an solchen Monstrositäten vorbeizusehen; wir lieben das Land, obgleich in den Wäldern und auf den öffentlichen Plätzen manch Konditortortenbild eines Ferschten dräut – laß ihn dräuen, denken wir und wandern fort über die Wege der Heide, die schön ist, trotz alledem.

Manchmal ist diese Schönheit aristokratisch und nicht minder deutsch; ich vergesse nicht, dass um so ein Schloß hundert Bauern im Notstand gelebt haben, damit dieses hier gebaut werden konnte – aber es ist dennoch, dennoch schön. Dies soll hier kein Album werden, das man auf den Geburtstagstisch legt; es gibt so viele. Auch sind sie stets unvollständig – es gibt immer noch einen Fleck Deutschland, immer noch eine Ecke, noch eine Landschaft, die der Fotograf nicht mitgenommen hat … außerdem hat jeder sein Privat-Deutschland. Meines liegt im Norden. Es fängt in Mitteldeutschland an, wo die Luft so klar über den Dächern steht, und je weiter nordwärts man kommt, desto lauter schlägt das Herz, bis man die See wittert. Die See – Wie schon Kilometer vorher jeder Pfahl, jedes Strohdach plötzlich eine tiefere Bedeutung haben … wir stehen nur hier, sagen sie, weil gleich hinter uns das Meer liegt – für das Meer sind wir da. Windumweht steht der Busch, feiner Sand knirscht dir zwischen den Zähnen …

Die See. Unvergeßlich die Kindheitseindrücke; unverwischbar jede Stunde, die du dort verbracht hast – und jedes Jahr wieder die Freude und das »Guten Tag!« und wenn das Mittelländische Meer noch so blau ist … die deutsche See. Und der Buchenwald; und das Moos, auf dem es sich weich geht, dass der Schritt nicht zu hören ist; und der kleine Weiher, mitten im Wald, auf dem die Mücken tanzen – man kann die Bäume anfassen, und wenn der Wind in ihnen saust, verstehen wir seine Sprache. Aus Scherz hat dieses Buch den Titel ›Deutschland, Deutschland über alles‹ bekommen, jenen törichten Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem – niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land. Und hier stehe das Bekenntnis, in das dieses Buch münden soll:

Ja, wir lieben dieses Land.

Und nun will ich euch mal etwas sagen:

Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich ›national‹ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.

Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands … !« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.

Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.

Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn ›Deutschland‹ gedacht wird … wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden.

Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.

Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.

Kurt Tucholsky

Aus: Deutschland, Deutschland.

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