Der Abschied

Mechthild Seithe

Erzählung

fensterdurchblick-klein.jpg


Sie ist froh, dass er wirklich gekommen ist. Jetzt ist sie doch froh darüber.
Zuerst sind ihr die heftigen Auseinandersetzungen eingefallen, die es jahrelang zwischen Heinrich und Wolfgang gegeben hat. Aber das ist nun schon lange her. Sie hat Wolfgang angerufen, als es mit Heinrich anfing, kritisch zu werden.

Sie hat ihn zwischen zwei Konferenzen erreicht. Er war auf der Stelle bereit, her zu kommen.
Bestimmt wird Heinrich auch in seinem Zustand noch begreifen, dass sein Sohn da ist. Und er wird sich freuen.
Der Mann ist zögernd in der Tür stehen geblieben. Sie versucht, in seinen Zügen zu lesen. Er steht da und schaut ins Zimmer. Über seine Gestalt fällt ein Streifen Sonnenlicht, das durch die heruntergelassenen Jalousien fällt. Der Mann blinzelt. Die ins Dämmer hinein gestreute Helligkeit in diesem Krankenzimmer scheint ihn zu überraschen. Was hat er erwartet von dem Ort, an dem er seinen sterbenden Vater besucht?
Es gibt keinen Grund, Trübsal zu blasen. Ingrid ist froh, dass der helle Tag bis in dieses Zimmer und bis an sein Bett dringt und ihn vielleicht noch einmal die Wärme der Sonne ahnen lässt. Es war den ganzen Tag düster und unfreundlich draußen. Seit ein paar Stunden aber hat es aufgehört zu regnen und nun steht der Himmel klar und blau über der Stadt. Und über die Krankenzimmerwände laufen nun blendende Sonnenbänder und überschütten die kahlen Flächen und die kühlen Gegenstände dieses dämmrigen Raumes streifenweise mit flirrendem Licht. Heinrich hat seit Tagen die Augen geschlossen.
Ingrid wirft einen sorgenden Blick auf den Mann, neben dem sie seit Tagen sitzt und dessen Hand sie die ganze Zeit hält. Sie spürt, wie Rührung in ihr aufsteigt beim Anblick des Gesichtes, das ihr so sehr vertraut ist. Sie kennt es wütend und zornig, sie hat es lustig erlebt, betrunken. Aber auch zärtlich hat sie dieses Gesicht gesehen, zerfließend und weich in der Lust. Jetzt ist es einfach nur ganz still und gefasst. Aber es ist nicht leer. Oh nein, leer ist es nicht.
Ingrid ist so froh, dass sie seinen Ärzten nicht geglaubt hat. Es ist sehr wohl wichtig für ihn, dass sie hier bei ihm sitzt. Auch wenn er fast immer die Augen geschlossen hat, auch wenn er nicht mehr spricht: Sie ist sich ganz sicher, dass Heinrich alles mitbekommt, was um ihn herum geschieht. Die Ärzte sprechen seit Tagen vom Wachkoma. Aber sie weiß es besser. Sie ist schließlich seine Frau. Seit 15 Jahren ist sie seine Frau, eine ziemlich lange Zeit immerhin! Wenn sie seine Stirn mit dem kühlen Tuch vorsichtig abtupft, spürt sie seine Dankbarkeit, sieht sie, wie seine Augenlieder zur Ruhe kommen wie besänftigte Kinder.
So intensiv wie jetzt waren sie in all den Jahren fast nie beieinander. Meist hat er sich gewehrt, wenn sie ihn mit Zärtlichkeiten bedrängte. Aber jetzt lässt er sie ganz nah an sich heran. Jetzt, wo es bald vorbei sein wird, jetzt ist sie ihm so nah wie nie vorher. Er ist anders geworden, weicher. Er wird sich auch über Wolfgang freuen. Sie ist froh, dass Wolfgang so schnell gekommen ist.

weiterlesen

.

Dieser Beitrag wurde unter Leute & Geschichten veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert