keine „Wenigstens Etwas-Lösung“ – sondern eine falsche Lösung!
Ich frage mich, ich frage die Bundesregierung: Wie soll eine Mutter, die nach der 6. Klasse von der Schule abgegangen ist, ihrer Tochter das große Einmal Eins erklären – und das vielleicht in einer Wohnung mit nur drei Zimmern, während sie auch noch die beiden Jüngsten betreuen muss, weil der Kindergarten geschlossen hat?
Deutschland hat seit bei der PISA-Studie und auch noch viele Jahre danach die fragwürdige Berühmtheit erlangt, eines der Industrieländer der Welt zu sein, wo der Zusammenhang zwischen dem Bildungsgrad der Eltern und dem Erfolg der Kinder in der Schule am allergrößten ist. Ein wenig hatte sich die Lage inzwischen verbessert.
Aber jetzt wird alles dafür getan, dass wir in dieser Hinsicht endlich Weltmeister werden.
Ich habe viele Jahre als Erziehungsberaterin gearbeitet. Ich erinnere mich, dass ein großer Teil meiner schwierigsten Problemfälle solche Eltern waren, die mit ihren schulleistungsschwachen Kindern zu Hause Hausaufgaben machten oder mit ihnen übten (z.B. Diktate schrieben, weil das Kind mit der Rechtschreibung nicht zurechtkam.) Meist gingen diese Bemühungen der Eltern auf den Wunsch eines Lehrers oder der Lehrerin zurück, die meinten, das Kind bräuchte im Elternhaus mehr Unterstützung bzw. auch mehr Druck.
Bei diesen elterlichen Bemühungen kam dann allerdings meistens genau das Gegenteil von dem heraus, was beabsichtigt war: Der Lerneifer der Kinder wurde noch geringer, als er schon war. Ihre Leistungen stagnierten oder nahmen noch weiter ab. Nicht selten gab es emotionale Beziehungsstörungen zwischen Kindern und Eltern, und das auch da, wo Eltern und Kinder bis dahin gut miteinander zurechtgekommen waren.
Bei den Versuchen, ihre Kinder zu unterstützen, waren diese Eltern oft ungeduldig, schimpften, ärgerten sich, hielten das Kind an, endlich aufzupassen und sich anzustrengen. Es gab nicht selten Tränen, manchmal auch bei verzweifelten Eltern, die doch nur das Beste für ihr Kind wollten. Und die Kinder hassten es, mit ihren Eltern zu üben.
Dieses Phänomen konnte ich in allen sozialen Schichten beobachten. Mittelschicht-Eltern waren dabei besonders ehrgeizig und sehr leistungsorientiert. Unterschicht-Eltern befanden sich gegenüber der Schule häufig selbst unter Leistungsdruck und fühlten sich meist von der Aufgabe überfordert. Nicht selten ließen sie dann unbewusst ihren Ärge an den Kindern aus. Hinzu kam noch, dass sie oft mit dem Lernstoff selbst überfordert waren. So manchem Kind, das ich betreut habe, hatten die Eltern falsche Mathe-Regeln, falsche Orthographie oder falsche Lösungswege beigebracht. Wenn sie in der Schule dann ihre falschen Lösungen verteidigten mit dem Hinweis, so habe es ihnen die Mutter beigebracht, blamierten sie sich und mussten sich dazu auch noch für ihre Eltern schämen.
Wenn ich solchen Eltern dann versuchte, klar zu machen, dass ihr Kind keinen Druck, keine hohen Erwartungen und schon gar kein Geschimpfe brauche, und dass es für das Kind schlimm sei, wenn es spüren könne, dassseine Eltern von ihm enttäuscht seien, dann verstanden viele Eltern lange nicht, was ich ihnen sagen wollte, nämlich:
- dass es wichtig ist, so einem Kind Zeit zu lassen, ihm die Gelegenheit zu geben, bei der Lösung einer Aufgabe, wenn nötig, lange zu probieren,
- dass es in Ordnung ist, wenn das Kind erst einmal nur in winzigen Schritten vorankommt, auch wenn diese Schritte für die ungeduldigen Eltern lächerlich klein erscheinen,
- dass es wichtig ist, Fehler des Kindes einfach durchzustreichen und nicht weiter zu beachten, dafür aber das Kind für jeden richtigen Schritt zu loben, und sei er noch so gering,
- dass es Gift ist, das betreffende Kind mit den anderen Geschwistern oder mit Freunden zu vergleichen und ihm diese als Vorbilder hinzustellen.
Solche Hinweise empfanden Eltern oft als peinlich. „So dumm,“ sagten sie, „sei ihr Kind nun doch wirklich nicht.“
Wenn ich es ihnen zeigte und z.B. beim Diktat-Üben das Kind aufforderte, den später diktierten Satz erst noch einmal ganz gründlich im Buch anzuschauen, bevor er dann Schritt für Schritt vorgelesen wurde, meinten sie, das sei es doch gar kein Diktat, das sei ja wirklich keine Leistung mehr…. und so weiter.
Oft habe ich aus diesen Gründen Eltern „verbieten“ müssen, die Hausaufgaben mit ihren Kindern zu machen oder auch zu üben. Und erst, wenn das Kind einige Male mit mir zusammen seine Hausaufgaben gemacht oder Diktate geübt hatte, und die zuschauenden Eltern erstaunt beobachten konnten, dass ihr Kind mit meiner Methode nicht nur ruhiger und zufriedenen war, sondern auch wirklich dazu lernte und sich allmählich, manchmal sogar schlagartig, in der Schule verbesserte, fingen sie an zu begreifen. Wir haben danach dann die Rollen getauscht: Sie haben mit dem Kind gearbeitet, aber unter meiner Anleitung und Beobachtung. Und so lernten beide, die Kinder und die Eltern. Und dann allmählich erst konnte man den Kindern ihre Eltern wieder zumuten.
Für mich steht seit dem fest:
Die Eltern-Kind-Beziehung ist eine sehr emotionale Beziehung, die im günstigsten Fall gewährleistet, dass das Kind unabdingbar geliebt und geschätzt wird. Diese Beziehung darf nicht mit dem schulischen Leistungsstress unserer Tage belastet werden. Das Elternhaus hat – wenn schon – dann die Aufgabe, schulischen Stress zu kompensieren, nicht ihn zu verlängern.
Denn selbst die sensibelsten und vielleicht auch pädagogisch vorgebildete Eltern sind bei den eigenen Kindern vor diesen oben beschriebenen elementaren Fehlern nicht gefeit. Es geht hier keineswegs darum, Eltern deswegen einen Vorwurf zu machen. Ihre Reaktion ist natürlich und verständlich. Aber zu ihren Erziehungsaufgaben gehört in unserer differenzierten Gesellschaft aus gutem Grund nicht die Vermittlung von Bildung im eigentlichen Sinne. Eltern werden für andere wesentliche Weichenstellungen gebraucht. Natürlich sind Eltern auch ganz wichtig, wenn es um die Grundlegung von Eigenschaften und Kompetenzen wie Neugier, Motivation, Interesse, Experimentierfreude, Ausdauer und Wissensdurst geht. Und die stellen die Grundlage dar für die weitere Bildung.
Aber schon an dieser Stelle wird deutlich, wie sehr in unserer Gesellschaft Bildung vor allem anderen eine Frage ist, ob ich das Glück hatte, in einem gebildeten Elternhaus groß zu werden, oder nicht. Schule hätte hier eigentlich die Aufgabe, die grundlegenden Fähigkeiten auch der weniger begünstigten Kinder zu verbessern und ihre Chancen denen der anderen Kinder anzugleichen.
Warum ich das heute berichte? Weil es das Erste war, was mir einfiel, als ich von den Plänen eines Homeschooling erfuhr.
Denn das bedeutet ja: Hier sollen Eltern, die in der Regel aus erklärbaren Gründen schon nicht gut geeignet sind, mit den eigenen Kindern zu lernen und zu üben – jetzt sogar den Unterricht für ihre Kinder selbst durchführen bzw. die Anweisungen des Lehrers mit dem Kind zusammen umsetzen. Wie soll das gehen? Lernschwierigkeiten, Lernunlust, gestresste Kinder, gestresste Eltern, Bildungslücken und psychische Probleme sind vorprogrammiert.
Schon deshalb ist es ein Segen für Kinder, dass das systematische Aneignen von Bildung eben nicht mit den Eltern, sondern außerhalb und in einer Situation stattfindet, wo sie zusammen mit anderen Kindern durch Personen unterrichtet werden, die in einem gewissen Distanzverhältnis zu ihnen stehen. Es geht nicht darum, dass den LehrerInnen die Kinder etwa gleichgültig sein sollten. Lehrerinnen, die Beziehungen zu ihren Schülerinnen eingehen können, sind Gold wert. Das trifft natürlich in ganz besonderem Maße auf die Grundschule zu. Aber LehrerInnen haben gegenüber den Eltern den großen Vorteil, dass sie z.B. von Fehlern oder Leistungsschwächen der Kinder nie persönlich betroffen sind und persönlich getroffen werden können, wie das bei Eltern verständlicherweise oft der Fall ist. Sie sind objektiver gegenüber den Kindern, sie sehen die Potentiale des Kindes möglicherwiese klarer, da sie innerlich nicht damit befasst sind, zu überlegen, ob ihr Kind z.B. den eigenen Fähigkeiten oder denen des Großvaters nachkommt. (Hiermit ist nicht gesagt, dass Lehrer immer die Potentiale der Schülerinnen sehen und richtig einschätzen. Aber sie könnten es, weil sie unbefangener an die Fähigkeiten und Eigenheiten der Kinder herangehen.)
Homeschooling ist also vom Grundansatz her keine Lösung, die „wenigstens etwas“ bringt. Sie ist vielmehr eine pädagogisch gefährliche und sozialpolitisch falsche Lösung.
Denn natürlich funktioniert das Ganze dort noch am ehesten, wo die Eltern die erforderliche Bildung haben und in ihrer Wohnung die ausreichenden technischen und Platz mäßigen Bedingungen gegeben sind. Und es funktioniert auch da, wo Kinder und Jugendliche so selbstständig und lernmotiviert sind, dass sie auch ohne Eltern klarkommen.
Das aber ist nur ein Teil der betroffenen Kinder. Die Kinder aus Unterschicht-Familien, die Kinder aus bildungsfernen Familien, auch die bereits lerngestörten oder lernschwachen Kinder, die trifft dieser schiefe Versuch am härtesten. Die Corona-Maßnahme Homeschooling hat in unsere Bildungslandschaft einen Krater gerissen, den wieder auszugleichen sehr schwierig sein wird. Die Schere in Deutschland geht nicht nur zwischen Arm und Reich immer weiter auf, sondern auch zwischen gebildeten und für diese Gesellschaft qualifizierten Kindern und Jugendlichen und solchen, die an der Bildung vorbeischlittern und im Regen stehen bleiben
Wenn jetzt unsere Bildungsministerin davon spricht, dass eine zu lange Dauer der Homeschooling-Situation bei Kindern zu einer Gefährdung ihres Wohles führen könnte, kann man nur sagen: Auch schon aufgewacht?? Das war vom ersten Tag dieser unseligen Idee doch sonnenklar. Und wenn nicht endlich von allen möglichen Seiten in dieser Richtung zwar verhaltene, aber deutliche Kritik gekommen wäre, dann hätte sie es bis heute nicht gemerkt.