Die Bettnachbarin

Erzählung

Mechthild Seithe

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the last rose

Irene beobachtet ihre ältere Mitpatientin, die wegen Brustkrebs nun schon zum dritten Mal eingeliefert wurde. Während sie noch über die Gemeinheit und Sinnlosigkeit des Lebens philosophiert, das ein so trauriges und hartes Schicksal zulässt, erlebt sie, wie für ihre Bettnachbarin – sozusagen im Angesichte ihres Todes – eine Liebesgeschichte beginnt. Hin und her gerissen zwischen Neid, Angewidertheit und Ärger ergreift sie schließlich für die Liebenden Partei und damit auch für sich selber..

22. September


Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass mein Leben nach all den Jahren in diesen vier kalkweißen Wänden verrinnt.
Nein, kalkweiß sind diese Wände nicht. Irgendjemand hat für einen faden Gelbton gesorgt. Damit die Patienten keine Depressionen bekommen. Wie mir scheint, reicht diese Maßnahme dafür absolut nicht aus.
Auch der handlich nah platzierte Knopf zur Auslösung des Fernsehprogramms hilft da wenig. Besser ist schon die Kastanie im Innenhof der Klinik. Auch wenn ich liege, sehe ich noch ihre obersten Äste. Und wenn ich am Fenster stehe was ich wieder kann und was ich mir ein, zwei Mal am Tag leiste – können meine Augen in ihrer Krone herumklettern wie kleine Affen. Diese Kastanie gibt mir eineindeutige Informationen über die gerade aktuelle Jahreszeit. Sie wandelt sich mehr als alles andere hier. Selbst die Monatsblätter des Kalenders, den eine Schwester freundlicherweise über dem kleinen Besuchertisch in unserem Zimmer aufgehängt hat, zeigt jeden Monat bunte, glänzende Autos, die durch Traumlandschaften fahren, in denen ewiger Sommer zu sein scheint.
Die Kastanie ist noch immer grün. Aber sie hat schon seit ein paar Wochen gelbgeränderten Blätter. Als ich herkam, war die Baumkrone kahl und durchsichtig. Ich habe lange dieses Gewirr aus verschlungenen Linien und Gittern angeschaut in den ersten Tagen. Dann, Wochen später leuchtete der Baum grün in mein Zimmer. Und irgendwann danach explodierte die Krone über Nacht in einen über und über mit weißen Kerzen geschmückten Frühlingstraum.
Aber die Blüten vergingen. Mit dem Mai ging auch meine Hoffnung, dieses Haus verlassen zu können, bevor der Baum wieder kahl dastehen wird.
Onkologie. Wer hier landet ist in d er Regel gerade seinem Schicksal begegnet. Ab da tickt die Uhr.

Ich gehöre inzwischen zum fast Inventar. Ich kenne den Dienstplan der Schwestern vermutlich besser als der Oberarzt und weiß auch von dem Kummer der Stationshilfe mit ihrer alten Mutter. Weniger bleibend sind die Eindrücke, die die anderen Patientinnen bei mir hinterlassen, die nacheinander das andere Bett in diesem Zimmer bewohnt, belegen, bekleckert, besabbert, beweint haben.
Die anderen waren fast alle älter als ich. Ja, ich weiß, es gibt manchmal auch Jüngere. Aber ich selber bin , weiß der Himmel, auch noch zu jung, für diese Scheiß Diagnose. Es ist ungerecht. Es ist zum Kotzen ungerecht.

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Was ich liebe – Unterm Strich – XIII.

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Frühlingsglaube

Die linden Lüfte sind erwacht
sie säuseln und wehen Tag und Nacht.
Sie schaffen an allen Enden.
Oh frischer Duft, oh neuer Klang,
nun armes Herze sei nicht bang,
nun muss sich alles, alles wenden.

 

Die Welt wird schöner mit jedem Tag.
Man weiß nicht, was noch werden mag,
das Blühen will nicht enden.
Es blüht das fernste, tiefste Tal.
Nun armes Herz, vergiss der Qual.
Nun muss sich alles, alles wenden.

Ludwig Uhland

 

 

Und dann ist noch all das da, was ich liebe, was ich erleben und erlauschen will, solange meine Augen, meine Ohren mitmachen.

 

Da ist mein Garten im Verlaufe der Jahreszeiten, die flirrenden Birkenblätter vor dem tiefblauen Himmel über meiner Hängematte, das Leuchten der Blüten vor dem satten Grün, der junge Specht, der sich zu uns verirrt, die ersten Keimlinge im April, die ich vor Elstern und Schnecken verteidigen muss, die Schatten- und die Sonnenplätze, der Kaffee im Schutz der Bäume, ….

 

Und da ist der Wald, der Wald in dem ich die ersten Schritte gemacht habe, der hohe Hildesheimer Wald und all die anderen Wälder, die im Sommer nach Harz riechen und im Winter nach Eicheln, wo auf Moospolstern mitten zwischen dichten Bäumen die Sonne eine kleine Waldlichtung mit Wärme tränkt, wo ich im Gras liege und in den Himmel blicke hinter den leicht wogenden Kiefern. Der Wald war mir stets ein Ort des Friedens, ein Ort, wo ich alle meine Sorgen und Ängste weglegen konnte. Hier war ich Mensch aber umgeben von Natur, von einer Welt, die mich als Gast duldete aber zärtlich und nachsichtig mit mir war.

Das Meer kenne ich erst seit meinem 18. Lebensjahr, aber ich meinte sofort damals, es schon immer gekannt zu haben: den weiten Horizont, den endlosen Blick in den Dunst an der Wassergrenze, das Rauschen, das sich einen Dreck schert um alles, was am Strand los ist, das immer weiter rauscht und keinen Menschen zu brauchen scheint. “In allen Lebenslagen”, so heißt ein Spruch, den ich immer beherzigt habe, “hilft Salzwasser: Tränen, Schweiß oder das Meer”. So ist es.

 

Ich liebe die Natur zu allen Jahreszeiten. Früher liebte ich am meisten den Herbst. Je älter ich werde, desto mehr warte ich auf den Frühling. Es tut gut, sich, wenn man selber nicht mehr im Frühling steht, zu vergewissern, dass die Erde nicht alt wird und sich ständig erneuert. Wenn Äste, die vorher wie totes Holz im kalten Februar standen und im Regen glänzten wie Metall, wenn die auf einmal zu leben beginnen, wenn sie grün schimmern und dann das Chlorophyll aus ihnen hervorbricht, wenn nackte Felder und gelbgraue trockenstarre Wiesen vom Vorjahr mit einem Mal vor Grün und Kraft strotzen, dann erlebe ich so etwas wie die Erneuerung meines Glaubens an die Kraft der Natur. Und ich bin stolz, in diesen Kreis hineinzugehören. Ich könnte meine Jahre nach Frühlingen zählen.

Und die Sterne, die Blüten, die kalten kristallklaren Seen in Brandenburg, die Bäche und Flussläufe, das Feuer. Das habe ich noch vergessen. Ich möchte noch oft im Garten oder im Zimmer sitzen und in die Flammen schauen, in diese vernichtende Lebendigkeit und Hitze, ich möchte die Funken sprühen sehen, zuschauen, wie dicke Holzscheite sich durch die Flammen verwandeln in verkohlte Pflanzen, wie plötzlich Wachstumsstrukturen wieder sichtbar werden und Zellverbände, Jahresringe. Und ich möchte dabei sein, wenn das Feuer am Ende sich als glühende Asche bescheiden und vertraulich zurücknimmt und schließlich erlischt.

 

Aber nicht nur die Natur berührt mich mit ihrer Schönheit. Auch die Schönheit, die Menschen geschaffen haben, erreicht mich, zumindest da, wo sie nicht aufgepeppt, in Plastik verpackt und schrill auf mich zu kommt. Alte Städte, Gebäude, in denen die Steine die Gewölbe noch tragen, Brücken, denen man ihre Aufgabe noch ansehen kann, Plätze, auf denen Menschen sich treffen, Straßen, die eine Landschaft durcheilen wie ein Strom aber auch die Via Appia, die Kilometer lang gesäumt ist von riesigen wilden Oleanderbüschen, all das erzeugt Lust und Freude bei mir. Und natürlich Musik, die bescheidene erst einmal, die ich selber machen kann und die große, die ich nur anhöre: Barock, Schubert, Beethoven, Lieder aus Irland, meine Beatles, so viele alte Popsongs, die meine Jugend und mein späteres Leben begleitet haben und mir Heimat sind. Kunst liebe ich auch, wenn sie nicht als Massenprodukt oder als etwas auf mich zukommt, was ich zu kennen habe, was man gesehen haben muss. Ich liebe den Tanz, das Verschmelzen des menschlichen Körpers mit der Musik. Und vor allem liebte und liebe ich die Dichtung, die Sprache, die sich wie ein Vogel von der Erde abheben kann und dann viel mehr ist als ein Mittel zur Verständigung, die zu schimmern beginnt, zu leuchten, zu summen, die Versprechungen macht, Visionen eröffnet, die ans Herz greift und die mich hinweg trägt aus der Wirklichkeit ohne die Wirklichkeit zu vertuschen. Ich liebe die Dichtung genau so wie die Wirklichkeit, manchmal mehr.

Und – zugegeben- , ich liebe das Autofahren, meinen PC und das Fotografieren.

 

Menschen liebe ich auch, nein nicht alle. Ich bin kein Philantrop, kein Menschenfreund, keiner der immer unter Menschen zu Hause sein kann und auch dort sein muss, einfach weil es Menschen sind. Ich achte sie, ich bestehe auf ihrer Würde und auf ihrer Gleichwertigkeit, egal wo sie herkommen und was sie sind und haben. Aber lieben kann ich nur wenige von ihnen.

Etwas anders ist aber das: ich brauche sie. Natürlich brauche ich sie und vielleicht brauchte ich sie immer mehr, als ich sie bekommen habe. Das sind alte Wunden. Möglicherweise liegt es an mir selber, dass die Menschen für mich nicht das waren, was sie hätten sein können, meine Menschen. Ich bin misstrausch und ängstlich gewesen vor ihnen. Vielleicht hätte ich mich selber mehr um Menschen kümmern müssen.

Doch ja, das werde ich vielleicht auch noch tun: mich mehr um andere Menschen kümmern.

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Alt werden – Unterm Strich – XII.

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Abendstille

Wir fahren in einem Boot in den Abend. Der Himmel ist
voller Schäfchenwolken. Der Fluss fließt glatt und glänzt.
Du bist bei mir. Du summst ein Lied.
Die Mühen des Tages weichen aus unseren Zügen.
Wir lehnen uns an einander und wissen,
dass nie zuvor wir uns so nah gewesen sind.
Irgendwann, morgen oder in ein paar Tagen
hat unser Boot die Stromschnelle erreicht,
in die wir hinabstürzen werden.

 

Was sollen wir tun?

 

Rücke noch näher. Halte mich fest.
Schau, die Abendsonne, die dein Antlitz beleuchtet,
macht dich jung. Die Bäume und Sträucher am Ufer
sind grün und spiegeln sich flimmernd im Wasser.
Lege deine Hand an mein Gesicht und fühle meine Haut.
Ich bin bei dir. Wir treiben gemeinsam dem Abgrund zu.
Aber bis dahin lächelt die späte Sonne noch eine ganze Weile
und vielleicht auch noch der kühle Mond
über unserem freundlichen Boot,
das unaufhaltsam mit dem Fluss dahin treibt.
Es war nie anders.

Mechthild Seithe

 

Mancher, der meine Gedanken lesen wird, wird einfach nur denken: sie ist alt, sie ist alt geworden und versucht damit klar zu kommen. Das ist alles.
Mag sein.
Und es liest sich zugegebener Maßen vielleicht auch sehr glatt, zu glatt. So, als könne man nun, nachdem all das geklärt ist, ewig so weiter leben.

Das ist nicht so.

Heute bin ich stolz darauf, dass ich mir nichts mehr daraus mache, dass ich nicht mehr zu denen gehöre, die die Welt im Griff haben, die sich auskennen, die mitspielen können. Heute bin ich froh, dass ich es akzeptieren kann, dass meine Haut Falten bekommt und Runzeln und dass ich nicht mehr so flott die Treppen steigen kann wie meine jüngeren KollegInnen.‘
Und morgen wäre ich dankbar, wenn ich noch so jung sein dürfte, wie ich es heute bin.
Morgen bin ich froh, wenn ich die Treppe überhaupt noch ohne Schmerzen hoch komme, wenn ich es schaffe, mich alleine um meinen Haushalt zu kümmern und für mich einzukaufen,…
Trotz all der entspannten Weisheit und der Freude darüber, dass die dummen und unnötigen Anstrengungen der Jugend und die mühsamen und immer auch irgendwie entfremdeten Mühen des Berufslebens nun bald hinter mir liegen, es geht nun einem schnellen oder allmählichen Ende zu.

Mein Vater wird 90 und sein Tag ist damit ausgefüllt, sich notdürftig zu versorgen und seine Schmerzen auszuhalten. Er hat genug, aber das Leben geht immer weiter und es macht wirklich beinah gar keinen Spaß mehr.
Ich sehe mich in 30 Jahren und weiß, dass ich nicht so viel Geduld, soviel Würde und soviel Tapferkeit aufbringen werde, wie er es heute tut.
Es müsste jemand da sein, der ihn umsorgt, der sich jeden Tag um ihn kümmert, der ihn die letzten Monate oder Jahre seines Lebens so weit entlastet, dass er noch ein bisschen Freude daran haben kann. Er lebt alleine. Seine Töchter leben 300, 600 Kilometer weit weg. Wir können es nicht. Wir schleppen uns durch die letzten Berufsjahre vor der Rente. Da kann man nicht nebenbei seinen alten Vater pflegen.

Ich denke, wie wird es bei mir sein? Bin ich dann auch alleine? Werde ich noch Freunde haben, die leben? Werde ich noch menschliche Nähe spüren? Werde ich in Würde die schwächsten Tage meines Lebens leben können?
Angst beschleicht mich, wenn ich sehe, wie mein Vater lebt, Angst, wenn ich an die gesellschaftlichen Alternativen und Möglichkeiten denke, die mir dann zur Verfügung stehen werden.

 

Noch bin ich nicht einmal in Rente. Noch denke ich: bald fängt das Leben an. Aber es wird nicht einfach sein und immer mühsamer, es wird vielleicht auch nicht mehr lange dauern oder aber ich schleppe mich noch mit 104 auf dieser Erde herum wie meine Urgroßtante.

Nie habe ich es wahr haben wollen: es endet klein, schwach, eingeschränkt, hilflos, dieses Leben. Ich habe mittelalterliche Darstellungen vom Kreis des Lebens gesehen. Am Ende ist der Mensch nur noch ein fast lächerlicher Schatten seiner selbst. Die Jugend wird dort gefeiert. Sie ist das Leben selber. Aber sie war niemals ewig. So wie angeblich heute.
Wir vergehen und die letzten Wege und Jahre werden wahrscheinlich schlecht für uns sein, sehr schlecht. Wer stirbt schon so, dass er es nicht merkt, beim Einschlafen, plötzlich? Ich wundere mich, dass es bisher alle geschafft haben, wirklich zu sterben. Meine Mutter hat sich sehr und sehr lange quälen müssen. So dass es wie eine Gnade erschien, dass ihr Herz dann auf einmal doch aufgab.

Haben wir das je in unseren Köpfen gehabt, dass es so ausgehen wird?

Natürlich wünscht man sich ein Ende in der Nähe eines geliebten Menschen, in vertrauter Umgebung. Man wünscht sich, dass man wirklich Abschied nehmen kann, von den Leuten, die man liebt, aber auch vom Leben, vom Wind, vom Licht, von der Musik…
Religiöse Menschen trösten sich vorher und vielleicht auch in diesen Momenten mit ihrem Glauben an das Jenseits. Ich sehe keine Veranlassung dazu und auch keinen Hinweis darauf, dass es so etwas irgendwie geben könnte. Ich würde es auch nicht wollen. Ich möchte sterben wie die Pflanzen und Tiere. Dem Gesetz der Natur folgend und mit ihm in Übereinstimmung. Auch der Gedanke einer Wiedergeburt war für mich von je her eher skuril und eher unangenehm.

Ich möchte sterben und sagen können: Das war mein Leben. Es ist irgendwann aufgetaucht und ich habe viele Jahrzehnte auf dieser Welt zugebracht, habe sie bewusst erlebt, die Natur und die Menschheit, so wie sie eben gerade waren zu meiner Zeit, und nun gehe ich wieder aus allem heraus und lasse es sich weiter drehen. Ich danke und es reicht. Es war gut und es war auch manchmal schlecht. Ich wünsche der Menschheit, dass sie irgendwie doch noch verhindert, dass sie sich so oder so selber zerstört. Ich wünsche, dass die, die mich vielleicht geliebt haben, noch ein Weilchen an mich zurückdenken werden.
Ich habe neulich etwas gehört vom Friedwald. Das wäre eine schöne Vorstellung und würde mir den Abschied erleichtern.

Aber vorerst gilt es zu leben, so lange es geht.

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Der Abschied

Mechthild Seithe

Erzählung

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Sie ist froh, dass er wirklich gekommen ist. Jetzt ist sie doch froh darüber.
Zuerst sind ihr die heftigen Auseinandersetzungen eingefallen, die es jahrelang zwischen Heinrich und Wolfgang gegeben hat. Aber das ist nun schon lange her. Sie hat Wolfgang angerufen, als es mit Heinrich anfing, kritisch zu werden.

Sie hat ihn zwischen zwei Konferenzen erreicht. Er war auf der Stelle bereit, her zu kommen.
Bestimmt wird Heinrich auch in seinem Zustand noch begreifen, dass sein Sohn da ist. Und er wird sich freuen.
Der Mann ist zögernd in der Tür stehen geblieben. Sie versucht, in seinen Zügen zu lesen. Er steht da und schaut ins Zimmer. Über seine Gestalt fällt ein Streifen Sonnenlicht, das durch die heruntergelassenen Jalousien fällt. Der Mann blinzelt. Die ins Dämmer hinein gestreute Helligkeit in diesem Krankenzimmer scheint ihn zu überraschen. Was hat er erwartet von dem Ort, an dem er seinen sterbenden Vater besucht?
Es gibt keinen Grund, Trübsal zu blasen. Ingrid ist froh, dass der helle Tag bis in dieses Zimmer und bis an sein Bett dringt und ihn vielleicht noch einmal die Wärme der Sonne ahnen lässt. Es war den ganzen Tag düster und unfreundlich draußen. Seit ein paar Stunden aber hat es aufgehört zu regnen und nun steht der Himmel klar und blau über der Stadt. Und über die Krankenzimmerwände laufen nun blendende Sonnenbänder und überschütten die kahlen Flächen und die kühlen Gegenstände dieses dämmrigen Raumes streifenweise mit flirrendem Licht. Heinrich hat seit Tagen die Augen geschlossen.
Ingrid wirft einen sorgenden Blick auf den Mann, neben dem sie seit Tagen sitzt und dessen Hand sie die ganze Zeit hält. Sie spürt, wie Rührung in ihr aufsteigt beim Anblick des Gesichtes, das ihr so sehr vertraut ist. Sie kennt es wütend und zornig, sie hat es lustig erlebt, betrunken. Aber auch zärtlich hat sie dieses Gesicht gesehen, zerfließend und weich in der Lust. Jetzt ist es einfach nur ganz still und gefasst. Aber es ist nicht leer. Oh nein, leer ist es nicht.
Ingrid ist so froh, dass sie seinen Ärzten nicht geglaubt hat. Es ist sehr wohl wichtig für ihn, dass sie hier bei ihm sitzt. Auch wenn er fast immer die Augen geschlossen hat, auch wenn er nicht mehr spricht: Sie ist sich ganz sicher, dass Heinrich alles mitbekommt, was um ihn herum geschieht. Die Ärzte sprechen seit Tagen vom Wachkoma. Aber sie weiß es besser. Sie ist schließlich seine Frau. Seit 15 Jahren ist sie seine Frau, eine ziemlich lange Zeit immerhin! Wenn sie seine Stirn mit dem kühlen Tuch vorsichtig abtupft, spürt sie seine Dankbarkeit, sieht sie, wie seine Augenlieder zur Ruhe kommen wie besänftigte Kinder.
So intensiv wie jetzt waren sie in all den Jahren fast nie beieinander. Meist hat er sich gewehrt, wenn sie ihn mit Zärtlichkeiten bedrängte. Aber jetzt lässt er sie ganz nah an sich heran. Jetzt, wo es bald vorbei sein wird, jetzt ist sie ihm so nah wie nie vorher. Er ist anders geworden, weicher. Er wird sich auch über Wolfgang freuen. Sie ist froh, dass Wolfgang so schnell gekommen ist.

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Mein Körper, das bin ich – Unterm Strich – XI.

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Nachtanbruch

Aus dem Kronen der Eichen
senkt sich die

Dunkelheit
über das Land,
sanft und lautlos
und unerbittlich.

In den Zweigen erstirbt
der klagende Laut eines Vogels.
Mein Herz flattert
ein wenig.

Dennoch,
wenn der letzte helle Streifen
im Westen erloschen ist,
hat es
bereits Ja gesagt
zur Dunkelheit.

M. Seithe

 

 

 

 

 

 

Als ich klein war, wollte ich entweder ein Engel ohne Körper oder aber eine Pflanze ohne Seele sein. Die Kombination von Körper und Geist erschien mir schon damals als Zumutung.
Es gab Zeiten, wo ich ihn fast vergessen habe, meinen Körper, wo ich ihn behandelt habe wie einen alten Sack, der mich umhüllt, der aber nichts mit der Person zu tun hat, die ich bin.

Eins mit meinem Körper war ich nur in Zeiten, in denen ich diesen Körper gebraucht habe als Quell von Freude und Lust: beim Wandern, wenn ich rechtschaffen müde war, wenn ich mich meiner Augen, meiner Ohren freuen konnte, wenn ich mit meinen Fingern etwas ertasten durfte, das mich lächeln machte: Das Fell eines Teddybären, ein Stück Moos, die Wange eines Kindes, das Haar des Geliebten… Und auch in den Zeiten, in denen meine sexuelle Lust für mich selbstverständlich war wie das Trinken und das Atmen. Aber das war nicht immer in meinem Leben so.

Ich denke heute, dass mein Schwanken im Bezug auf Sexualität auch etwas mit der geringen Beachtung und Wertschätzung meines Körpers zu tun hatte. Ich habe ihn nicht geliebt, er war mehr selbstverständliche Beigabe, mehr Last als Lust. Nicht nur, dass ich mich nie besonders schön gefunden hätte. Ich habe mich nicht mit meinem Körper identifiziert. Ich, das waren meine Gefühle, meine Gedanken, meine Pläne… aber mein Körper?

 

Und nun, da ich alt werde, stelle ich fest, dass dieser Körper es vor allem ist, der alt wird und mich mitzieht in das Schwachwerden und Vergehen. Körperliche Leiden stellen sich mir und meinen Plänen immer öfter in den Weg. Und alles an mir verliert die Kraft, die Straffheit, die Glätte, die Spannkraft. Ich muss meinem Körper folgen und ich begreife langsam, dass ich es bin, der da leidet und schwach geworden ist. Denn wenn er aufgibt, werde ich sterben.
Wenn ich einen neuen Personalausweis beantrage und gefragt werde: “172 cm groß, stimmt das?”, dann nicke ich, weil das immr meine Größe war. Und ich denke erboßt, dass ich – heute gemessen – nur mehr 169 cm groß bin. Die Bandscheiben verabschieden sich.

Ich beginne allmählich zu bedauern, dass ich mich meines Körpers nicht mehr gefreut habe, als ich noch jung war, dass ich ihn nicht mehr geliebt, geachtet, gepflegt und wertgeschätzt habe: meine Beine, meine Füße, meine Arme, meinen Leib, meinen Schoß, meine Brust, meinen Hals und mein Gesicht. Wenn ich es genau überlege sind meine Hände die einzigen Teile meines Körpers, zu denen ich eine liebevolle Beziehung habe.

Wenn ich meine Hündin betrachte, so kann ich sie ohne ihren Körper gar nicht denken. Und sie ist ganz und gar eins mit ihm. Wie kommt man bloß als Mensch auf so absurde Gedanken, dass man sich meint über seinen Körper erheben zu können?
Diejenigen, die ihn mit viel Aufwand und Mitteln versuchen, ewig jung zu halten, haben seine Bedeutung offenbar besser erkannt, aber sie haben ihn in seiner Wirklichkeit genauso wenig angenommen. Sie versuchen ihn aus zu trixen, seine Natur zu leugnen.

Den Alterungsprozess annehmen können, das wäre es. Damit habe ich noch immer zu kämpfen. Wohl komme ich mühsam den Entwicklungen hinterher, aber sie sind leider schneller als meine Bemühungen und Einsichten.
Aber ich kann es schon hören, ganz leise,
mein Herz sagt ja.

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Heimatlose

Ich bin fast gestorben vor Schreck:
In dem Haus, wo ich zu Gast
war, im Versteck,
bewegte sich
plötzlich hinter einem Brett
in einem Kasten neben dem Klosett
ohne Beinchen, stumm, fremd und nett
ein Meerschweinchen.

Sah mich bange an, sah mich lange an.
Sann wohl hin und sann her,
wagte sich dann heran
und fragte mich:

„Wo ist das Meer?“

Ringelnatz

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Die Liebe spielt nicht im Paradies – Unterm Strich – IX.

Nach der Vertreibung aus dem Paradies

Wie könnte ich vergessen,
was wir hatten, was wir waren?
Wie könnte ich die Leichtigkeit
vergessen, die unsere Stimmen trug
und dieses milde Licht, dass keine Schatten kannte?

Dort hinter dieser Dornenheckenschranke,
die uns vom Paradiese trennt,
war alles anders: Unsterblich waren wir.
Unsterblich auch war unsere Liebe
und unerschöpflich, grenzenlos.
Du hast es wirklich schon vergessen?
Du lachst? Wie kannst du lachen!

Mechthild Seithe

 

 

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Ich habe inzwischen doch begriffen, dass auch die Liebe nur vorübergehend die Farbe der untergehenden Sonne annehmen kann und dass bei hellem Tag besehen, Liebe vor allem bedeutet, den anderen zu achten und sich zu bemühen, ihm Achtung zu zeigen. Und ich bin dankbar, dass ich diese Chance noch habe.

Die große Liebe und die große Leidenschaft hatte ich stets nur in meinem Affären, während, vor oder nach meinen Ehen. Aber ihnen traute ich nicht über den Weg.
In meinen jüngeren Jahren habe ich die Männer geheiratet, mit denen mich eine intensive und stabile Freundschaft verband. Ich habe mich nie getraut, mich wirklich richtig zu verlieben. Meine Beziehungen gingen auf Nummer sicher. Und sie scheiterten beide nach vielen Jahren, obwohl ich schon nach nur wenigen Jahren wusste, dass mich diese Beziehungen nicht glücklich machen würden.
Dann später, mit über 50 Jahren, ergriff mich die Liebe so heftig, dass sie mich fast aus der Bahn warf. Ich verlor dabei beinah meinen Verstand und meine Würde. Und wurde trotzdem oder gerade deshalb bitter enttäuscht. Die Verletzung war unglaublich. Ich habe mich nur schwer erholt davon wie von einer lebensbedrohenden Krankheit.

Dann fand ich doch einen Mann, der mich liebte und in den ich mich verlieben konnte. Unsere Paradieszeit war die glücklichste Zeit meines Lebens. Es war meine erste erfüllte Liebe und Leidenschaft, die nicht heimlich standfand, sondern offen unter der Sonne. Wir verstanden uns ohne Sprache. Ja wir machten uns lachend Sorgen, ob es mit uns später nicht zu langweilig werden könnte, weil wir weit und breit keinerlei Meinungsverschiedenheiten oder Anlässe zu Streit oder Mißverständissen sahen. Wir liebten uns mit dem Körper, mit dem Herz und auch mit dem Verstand. Es war tatsächlich ein Art Paradies. Es fehlte nichts. Das Lebensgefühl war zum ersten Mal perfekt. Wir watetem im Glück. Es war wie ein Nach Hause kommen, wie ein Losgesprochen werden von den Sorgen und Lasten des alltäglichen Lebens, es war das, was man als “siebten Himmel” bezeichnet.

Dieser Zustand dauerte drei Monate. Dann spürte ich die ersten Veränderungen. Er war nicht mehr nur und immerfort nur von mir erfüllt, er kümmerte sich wieder um andere Dinge. Ohne dass unsere Liebe und Leidenschaft aufhörte, spürte ich ab da schmerzhaft und mit großer Verlustangst, dass wir auf der harten Erde landeten und uns fernerhin dort zurecht finden mussten. Es gab Krisen. Wir blieben zusammen, aber das ständige Gefühl, Stück für Stück aus dem Paradies gestoßen zu werden, verließ mich nicht mehr.

Er empfand das alles als ganz normal, was mich sehr traurig machte und auch verletzte.

Dennoch blieben wir ein Paar, verstanden uns immer noch leidlich, liebten uns, lebten zusammen, bauten uns ein Haus, pflegten einen Garten und teilten unsere Sorgen und Freuden.
Das Problem, keine Missverständnisse, Meinungsverschiedenheiten und Fremdheiten zwischen uns zu haben, gibt es allerdings schon lange nicht mehr. Wir brauchen jetzt die Worte, wenn wir uns verstehen wollen und nicht immer gelingt es.
Die Leidenschaft ist besänftigt. Alles geht in ruhigen Bahnen. Vielleicht sind wir jetzt einfach doch alt geworden? Oder ist das einfach der Weg aller Leidenschaft? Ein Spruch geistert in meinem Kopf: “Wenn du Glück hast, wird aus einer großen Liebe eine gute Freundschaft.”
Dieser Spruch hat mich früher empört. Heute sehe ich das gelassener.
Wenn man drei Mal geheiratet hat, weiß man, dass man doch immer wieder den gleichen Typ nimmt, dass man immer wieder die gleichen Fehler macht, dass man immer Männer wählt, die auch die gleichen Fehler machen, zu mindest viele, die man schon kennt und an denen man sich schon oft den Kopf eingeschlagen hat.
Und nun?
Noch einmal Paradiesgefühle, wenigstens einen kleinen Nachklang?
Für Affären bin ich zu alt, zu bequem, zu müde. Und eigentlich auch nicht dran interessiert. Natürlich tut es gut, wenn ein jüngerer Mann einem zulächelt, wenn man spürt, da baut sich sogar noch ne Spannung auf. Aber das reicht dann auch.

Ich habe genügend Zeiten der Leidenschaft und des beflügelt Seins genossen. Ich wäre heute zu müde, sie noch einmal erleben zu wollen und ich möchte die Landung auf dem Boden der Realität nicht noch einmal mitmachen mit all ihren Prellungen und Enttäuschungen. Ich bin froh, dass ich sie überstanden habe und begreife, dass es möglich ist, bei Tageslicht den anderen so zu sehen wie er wirklich ist und ihn dennoch gerne zu haben, statt nur in das eigene Gefühl verliebt zu sein.
Und ich weiß inzwischen auch, dass das Paradies wirklich kein normaler Zustand ist und ein Verharren im Paradies ein Zeichen von fehlender Reife sein dürfte, und dass das Bestehen darauf, in paradiesischen Verhältnissen zu verweilen, die Flucht vor der Wirklichkeit ist.
Und ich weiß, dass es Kraft kostet, eine Beziehung lebendig und auch ein bisschen spannend zu halten, und warm und vertraut…. Das geht nicht von alleine, auch dann nicht, wenn man drei Monate zusammen im totalen Paradies gehockt hat bzw. geschwebt ist.
Vielleicht hätte ich schon in meinen früheren Ehen diese Kraft aufbringen sollen und damit auch diese Beziehungen schön und tragfähig gestalten können. Heute denke ich, so schlecht waren sie nicht. Ich aber habe ihnen schließlich keine Chance gegeben. Weil ich auf dem Paradies bestand.

Nun habe ich es gefunden und habe erlebt, dass es doch irgendwann verblasst und dass wir nach ein paar Jahren genauso dastehen wie Leute, die dieses Paradies nicht miteinander erlebt haben. Und auch wir können heute nur mit Anstrengung, mit Phantasie und mit der Bereitschaft, die Beziehung wirklich ernst zu nehmen, aus unserem Zusammenleben etwas Befriedigendes, Glückliches, Verlässliches machen.
So sicher es ist, dass das Paradies nicht von Bestand sein kann, so sehr bin ich heute aber auch davon überzeugt, dass eine Beziehung deswegen nicht automatisch vor den Hund gehen muss.
Diese Investition wäre mir noch wichtig.

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mal wieder: Kuscheltiere

wen es interessiert:

Ich habe vor ein paar Tagen – flankierend zu meinem neuen gleichnamigen Forschungsprojekt – das Kuscheltier-Blog eröffnet. (www.kuscheltier.tageundjahre.de)

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Ich werde dort Ergebnisse, Hypothesen und Fragen aus meinem Forschungsprojekt ins Netz stellen und hoffe auf interessante Kommentare und Fachbeiträge von Kuscheltier-Experten aller Altersstufen.

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Das Riesenrad

Erzählung

Mechthild Seithe

Er solle schon vorausgehen. Sie müsse noch ihren Eyeliner nachziehen, hatte sie gesagt.
Als er die Tür des Hotelzimmers hinter sich schloss, war sie plötzlich alleine. Ihr war, als tauche sie für kurze Zeit aus einer drückenden Wassertiefe auf, um Atem zu holen.

Die Heftigkeit des Befreiungsgefühls überraschte sie. Sie stand im Bad, als er hinaus ging. Die Spiegel im schneeweiß gekachelten Raum zeigten ihr ein blasses, fragendes Gesicht, das wohl ihres sein musste. Sie schaltete die Badezimmerlampe aus.
Im Hotelzimmer waren die Betten noch nicht gemacht. Auf dem Nachttisch neben ihrem Kopfende lag der Brief ihrer Tochter, wegen dem sie sich vor dem Einschlafen gestritten hatten: Jetzt fiel es ihr wieder ein. Richtig gestritten hatten sie sich natürlich nicht. Eigentlich hatten sie sich noch nie gestritten. Keiner von ihnen wollte das. Sie hatten beide genug gekämpft in ihrem Leben mit anderen und mit sich selber.
Es war auch gar nichts weiter geschehen. Er hatte sich über ihre Sorgen lustig gemacht. Er fand sie überflüssig. Natürlich waren sie überflüssig, ihre Sorgen. Und dennoch hatten sie diese Sorgen auf einmal überfallen, als sie den Brief las. Und sie hatte ihre Sorgen den ganzen Tag nicht wieder loswerden können.
Natürlich würde ihre Tochter auch diese Enttäuschung verkraften, irgendwann. Aber der Gedanke an das verletzte, kindlich hilflose Gesicht von Jana war ihr wie ein toter Vogel mitten ins Herz gefallen und ließ sie nicht mehr los. Mitten im Wienurlaub hatten sie einmal mehr ihre Mutterreflexe in den Griff bekommen.
Aber wieso verstand er das nicht? Sie konnte nun mal nicht einfach abschalten, vergessen, optimistisch sein. Ihre Urlaubslaune hatte einen hässlichen Knick bekommen. Aber er lachte nur darüber! Selbst als sie richtig böse und dann plötzlich tintentraurig wurde, hatte er die Sache immer weiter auf die leichte Schulter genommen.
Trotzdem wurde kein richtiger Streit daraus. Sie küsste ihn flüchtig, als sie ihm Gute Nacht wünschte. Aber es blieb eine kühle Enttäuschung zurück. Grübelnd und fröstelnd war sie eingeschlafen.

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der-einsame-klein.jpg Der eiserne Mann, Park in Melk

Sie warf einen Blick aus dem kleinen Fenster hinunter in die schmale Straße vor dem Hotel. Auto reihte sich an Auto rechts und links der Fahrbahn, auf der nur mit Mühe zwei Wagen an einander vorbei fahren konnten. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite kamen Menschen aus dem türkischen Gemüseladen. Zwei Häuser weiter stellten Straßenarbeiter Sperrschilder auf. Irgendwo noch weiter hinten, eng eingekeilt, musste auch ihr Wagen stehen. Wie froh waren sie vor vier Tagen gewesen, als sie diesen Stellplatz gefunden und es dann auch noch geschafft hatten, das Auto hineinzuparken! Lachend hatten sie sich in den Armen gelegen. Jetzt also konnten sie sorglos mit ihrem Wienurlaub beginnen.

Damals war ihre Freude noch ungetrübt.
Wie lange schien das her zu sein! Was war inzwischen passiert? War es wirklich dieser dumme Streit? Oder war da ein Eis gebrochen, dass unbemerkt ganz dünn geworden war und bei der ersten Belastung nachgab und den Weg in den Abgrund öffnete?

Der Himmel über den Dächern und den schon bräunlich verfärbten, noch mit ihrer grünen, stacheligen Last behangenen Kastanien war blass blau, von dünnen Federwolken überzogen. Es sah nach Regen aus. Das Wetter hatte also umgeschlagen. Es war schon gestern Nachmittag kalt geworden. Sie hatte ziemlich gefroren in ihrer Sommerjacke.
Sie sollte heute unbedingt ihren Schal umlegen, wenn sie zum Prater fahren werden. Sicher wird wieder dieser kühle Wind wehen, sobald man die Innenstadt mit ihren schützenden großen Bürgerhäusern verlassen haben würde.
Der Prater, der war ihr als Erstes eingefallen, als er vor ein paar Monaten vorschlug, mit ihr nach Wien zu fahren, der Prater und das Riesenrad. ‚Wir werden im Riesenrad sitzen, auf die Stadt hinunterschauen und uns küssen. ‚Wien, Stadt der Liebenden’, dachte sie damals.
Die nächste U-Bahnstation war nicht weit. Sie lag vorne beim Westbahnhof. Von dort aus würden sie nachher wieder aufbrechen. Sie konnte ihn von hier oben sogar sehen, wenn sie sich ein wenig zu weit vorbeugte.
Langsam drehte sie sich vom Fenster weg. Sie musste endlich hinunter gehen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie nun schon hier oben gestanden und hinuntergesehen hatte. Er würde beunruhigt sein, wenn sie nicht bald käme.

Auf dem kahlen, langen Hotelflur begegnete ihr kein Mensch. Im spiegelnden Fahrstuhl fuhr mit ihr ein junges Pärchen ins Erdgeschoß, das kichernd mit sich selber beschäftigt war und von ihrer Anwesenheit keinerlei Notiz nahm. Unten im Foyer lümmelte sich eine japanische Reisegruppe auf ihren großen Koffern und wartete auf irgendetwas. Im Frühstückssaal herrschte noch immer Hochbetrieb.
Sie blickte sich suchend um. Fast alle Plätze waren belegt. Ein kleiner Tisch am Fenster fiel ihr ins Auge, an dem noch niemand saß. Am liebsten wäre sie dort hingegangen und hätte von da weiter aus dem Fenster gesehen. Sie riss sich zusammen. Kurt wartete auf sie. Er würde es seltsam finden, wenn sie sich jetzt alleine an irgendeinen Tisch setzen würde. Und nun sah sie auch Kurt, weiter hinten im Raum. Er winkte sie mit einer seiner großen Gesten zu sich heran. Natürlich würde sie jetzt zu ihm gehen. Sie warf einen kurzen, sehnsüchtigen Blick zu dem kleinen Tisch am Fenster. Dann bahnte sie sich zwischen den essenden Menschen und der Schlage am Büffet hindurch den Weg zu ihm.
Er war nicht alleine. Am Tisch hatte noch ein anderes Paar platz genommen. Sie wusste nicht, ob sie das angenehm oder störend finden sollte. Er aber lächelte ihr entgegen, stand auf und rückte ihr den noch freien Stuhl zurecht.
‚Er müsste nicht so viel Theater machen’, dachte sie mit einem kleinen Unbehagen. Es war sicher lieb gemeint. Aber irgendwie kam ihr sein Verhalten vor den anderen albern vor. Sie grüßte etwas steif in die Runde.
„Du hast lange gebraucht, mein Schatz“, stellte er fest. In seiner Stimme klang kein Vorwurf mit, nur ein kleines Erstaunen.
Sie murmelte etwas von verwischter Wimperntusche und goss sich einen Kaffee ein.
Wieso verhält er sich so unbefangen, ganz so, als sei nichts gewesen gestern Abend, dachte sie verwirrt. War es möglich, dass er den kleinen Vorfall völlig vergessen hatte? Wenn sie ehrlich war, hielt sie es sogar für möglich, dass er ihn nicht einmal bemerkt hatte. Vielleicht sollte sie ihn einfach auch vergessen.
Sie stand auf und ging mit ihrem Teller zum Büffet. Sie war froh, noch einmal fort gehen zu können.

„Heute geht es also zum Prater“, plauderte Kurt munter drauflos, kaum dass sie sich wieder gesetzt hatte.
„Da waren wir gestern auch“, bemerkte der Tischnachbar und lachte seine Partnerin an. Die lächelte auch und legte dann liebevoll ihre Hand auf seinen Oberarm.
Wie von ungefähr flog ein kleines, trauriges Neidgefühl durch ihr Herz, als sie das andere Paar betrachtete. Die beiden mochten etwa in ihrem Altern sein. Aber bestimmt waren auch sie ein frisches Liebespaar. So sah man sich nicht mehr an nach 20 Jahren Ehe. Die beiden waren sicher noch nicht allzu lange zusammen, vielleicht erst seit diesem Frühling, oder seit letztem Jahr, so wie sie und Kurt auch.
Konnte man ihnen auch noch ansehen, dass sie ein Liebespaar waren?
Sie musste unwillkürlich den Mann betrachten, mit dem sie nun seit gut einem Jahr zusammen war. Sie sah ihn neben sich sitzen und lachen. Sie schaute in sein Gesicht und wartete auf das gewohnte Gefühl der Rührung, das sie immer ankam beim Anblick seines schmalen aber doch weichen Mundes, seiner starken, leicht nach links gebogenen Nase. Das Gefühl blieb heute aus und außer der Tatsache, dass sein Dreitagebart jetzt doch besser rasiert werden sollte, fiel ihr nichts bei seinem Anblick ein. Er war noch immer derselbe wie vor wenigen Tagen. Aber war sie es auch? Etwas war von ihr abgefallen. Jemand hatte den Strom abgestellt. Das Zaubergespinst aus goldfarbenen Fäden, das sie so eng verbunden hatte, das ihre Gedanken und Gefühle seit Monaten auf wunderbare Weise miteinander verwoben hatte, es schien mit einem Mal zerrissen und zu einem banalen Bindfaden zusammengeschnurrt. Und die Erkenntnis löste in ihr nicht einmal Verzweiflung aus, nur einen kleinen Schreck, ein Erstaunen, ein trauriges Erstaunen. Wann war das passiert, überlegte sie. Erst gestern Abend? Oder vielleicht doch schon eher? Sie schluckte.
„Geht es dir nicht gut?“ Er hatte ihren Blick bemerkt.
„Doch, doch“, versicherte sie und versuchte zu lächeln.
„Du siehst so traurig aus.“
„Tatsächlich? Warum sollte ich denn traurig sein?“
„Sollen wir besser heute nicht zum Prater fahren?“
„Doch, doch. Es ist schon o. k. Lass uns hinfahren!“
Immerhin waren sie in Wien und das Riesenrad auf dem Prater, das durfte man sich einfach nicht entgehen lassen. Trotz allem.

baumamweg.jpg der Weg in den Winter

Am Himmel zogen inzwischen dunkel gefärbte Wolken über das blasse Blau. Die Windböen, die durch die breite, menschenleere Allee fegten, klatschten ein paar kalte Tropfen in ihr Gesicht. Am Boden klebten große braune und gelb verfärbte Blätter.

Eine ganze Zeit lang waren sie schon nebeneinander her gelaufen, ohne sich zu berühren. Sie hatte demonstrativ ihre Hände tief in die Jackentasche gesteckt. Sie erwartete, er würde seine Jacke um sie beide wickeln und seinen Arm wärmend um ihre Schulter legen, sobald sie ihren Widerstand aufgäbe. Aber so sehr sie es sich wünschte, sie brachte es nicht fertig, ihn zu berühren. Sie konnte es nicht. Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen vor Enttäuschung über ihren eigenen Widerwillen. Am liebsten wäre sie irgendwo hineingekrochen, in irgendein Mauseloch, wo sie geborgen und für sich allein dem kalten Tag hätte trotzen können.
Er lief neben ihr her und sah sie ab und zu von der Seite an, sagte aber nichts.
„Du hast ja ganz kalte Hände“, bemerkte er schließlich doch, als er beim Einbiegen von der Straße in die Parkanlage zum Pratereingang ihre Hand genommen hatte.
„Ich finde es heute ziemlich eisig“, bemerkte sie und fühlte sich ertappt.
Sie ließ ihm ihre Hand, zog sie nicht zurück. Aber sie spürte kaum Wärme zu sich herüber fließen.
„Wir sind ja gleich da“, versuchte er sie zu trösten. „Komm, wir gehen etwas schneller, dann wird dir sicher warm!“
Sie nickte stumm. Ihre kalte Hand lag in seiner wie ein toter Gegenstand, der nicht zu ihr gehörte.
‚Was ist los mit mir?’, dachte sie mit einem Anflug von Panik. Es kam ihr so vor, als hätte jemand während eines Wolkenbruches den Regenschirm über ihr zusammengeklappt. Am liebsten wäre sie umgedreht und mit einen Taxi ins Hotel zurück gefahren.

Nur vereinzelte Menschen wagten sich an diesem windigen, kalten Spätherbsttag in den Prater. Nur wenige Schaubuden hatten geöffnet. Hinter der Theke der Schießbude langweilte sich fröstelnd eine junge Frau. Der kleine Platz um das berühmte Riesenrad war beinahe menschenleer. Die aufgedonnerte, vollbusige Dame im Kassenhäuschen wartete mit müdem Gesicht vergebens auf Besucher. Die Gondeln hingen traurig über ihnen, wie gefangen in der feuchten Luft. Es verspürte offenbar niemand Lust, dort oben in der grauen Regenluft herumzukreisen und einen Blick auf das ungemütliche, graue Bild zu werfen, das die Stadt heute bot. Es fror sie beim Anblick der im kalten Himmel festgehaltenen freien Kabinen. Nein, wahrhaftig, heute wollte sie nicht Riesenrad fahren.
Ganz in ihrer Nähe ertönte ein dünnes, mutwilliges Bimmeln, das die Besucher zu einer Rundfahrt in die Praterbahn aufforderte. Die buntbemalten Wagen erinnerten an Kindertage. Es könnte lustig sein, damit über das Pratergelände zu fahren. Beim näheren Hinsehen, zeigte der Lack auf den Waggons schon die untrüglichen Spuren der zu Ende gehenden Saison. Auch die Sitzpolster in den Waggons waren abgenutzt und schmuddelig.
Dennoch stiegen sie in einen der engen Wagenabteile. Auf jeden Fall war das besser, als eine luftige Fahrt im traurigen Riesenrad. Sie setzten sich einander gegenüber, nicht nebeneinander, so wie sie es sonst immer taten. Mit unterdrückter Ungeduld warteten sie jeder für sich auf die Abfahrt. Außer ihnen saß im Zug ein paar Abteile weiter nur noch eine junge Frau, die einen kleinen Jungen auf ihrem Schoß festhielt. Die anderen Waggons blieben leer. Es dauerte Minuten, bis die Bahn endlich anfuhr und dann los ruckelte, wie eine lange, mit bunten Papiergirlanden geschmückte Geburtstagstafel, an der nur ganz wenige Gratulanten Platz genommen hatten.
Im Schleichtempo bummelten der Zug auf seiner festgelegten Route mit ihnen kreuz und quer über den Prater. Nasse Windböen fegten zwischen den Buden hindurch und jagten ungehindert durch das offene Abteil. Von den Metallwänden der Wagen strahlte Kälte ab. Sie zog ihre Jacke enger um sich. Sofort wechselte er auf ihre Seite und sie zu wärmen. Sie lehnte sich bereitwillig und zitternd an ihn und fror dennoch weiter.
Das kleine Gefährt zuckelte vorbei an überdimensionierten, grell bunten Losbuden. Sie kamen an Verkaufswagen vorbei, die über und über mit Lebkuchenherzen behängt waren, auf denen in verschnörkelter, weißer Schrift zuckersüße Liebesschwüre um die Wette schrieen.
Vor den mit rosafarbenen und neongrünen Riesenteddybären prall gefüllten Regalen traten Losverkäufer frierend von einem Bein auf das andere. Die Bahn patschte durch große Pfützen und fuhr mitten durch Berge zusammengewehter Papierfetzen. Das dünne, scharfe Klingeln der kleinen Bahn scheuchte die wenigen Besucher zur Seite, die zwischen den Schaubuden und Karussellen herumirrten.
Schließlich bog der kleine Zug in die zugige Allee ein, von der sie vorhin gekommen waren und fuhr jetzt eine Zeit lang schnurgerade weiter, zwischen den alten Bäumen mit ihren noch belaubten, brauen Kronen hindurch. Die Blätter, die schon am Boden lagen, trieb der Wind vor sich her, schüttete sie hier und da launisch zu Blätterbergen auf, die gleich darauf wieder aufwirbelten und weitergetrieben wurden. Die Fahrt schien endlos. Sie fror immernoch. Der Mann neben ihr versuchte trotzdem, seine gute Laune zu behalten. Es nützte nichts. Weder ihm noch ihr. Vor dem inzwischen gleichmäßig grauen Himmel sahen die Silhouetten der Bäume aus, als hätte sie jemand aus braunem Packpapier ausgeschnitten und auf graue Pappe aufgeklebt.
Als die Bahn endlich wieder am Riesenrad angekommen war, hatte sie das Gefühl, zu Eis erstarrt zu sein. Es tat gut, die Füße wieder bewegen zu können.
„Wir sollten was Warmes trinken“, sagte er vernünftig. „Oder meinst du, wir können doch noch aufs Riesenrad?“
Sie sah hoch. Inzwischen hatte das Riesenrad eine langsame Fahrt aufgenommen. Ganz oben, wo die höchste Gondel in den Himmel ragte, war jetzt die Wolkendecke ein klein wenig aufgerissen und gab einen schmalen Streifen Oktoberblau preis. Vielleicht wäre es da oben jetzt sogar angenehmer als hier unten, mitten auf dem zugigen Platz?
Sie zögerte. Auf einem großen Holzschild, das neben dem Kassenhaus angebracht war, entdeckte sie eine Aufschrift, ein paar in schwungvollen Buchstaben gemalte Zeilen, ein Gedicht, ein schwebendes Zauber- und Liebesgedicht, eine Ode an das Riesenrad. Sie las es verwundert, dieses Stück mondsüchtiger Poesie. „Ingeborg Bachmann“ stand darunter und ein Datum.
Da war diese Frau also eines Tages hier gewesen, und beim Anblick des Riesenrades hatte sie, tief beeindruckt, die Sterne schauen können und den Atem der Liebe gespürt. Es war schon lange her. Aber sie hatte für alle Besucher des Praters diesen kleinen trunkenen Lichtgedanken hier zurückgelassen.
Sie stand und las. Lange. Immer wieder.
Ja, so in Etwa hatte sie es sich vorgestellt, dieses Wien: Ein Liebestraum und mitten darin sie beide, eingetaucht in die Nähe und Wärme des anderen, schwebend auf einer trudelnden, schimmernden Wolke, ergriffen von der Tiefe und Klarheit des Gefühls für einander.
Aber es war nicht so gekommen, Frau Bachmann! Ganz anders war es gekommen: Sie fand sich hier wieder in einer grauen, nassen Stadt, bei unfreundlichen Herbstwinden und mit kalten Händen und kaltem Herzen.
„Was ist nun, wollen wir? Hast du jetzt Lust bekommen?“ Seine Stimme hatte etwas Gezwungenes.
„Nein“, sagte sie. „Mir ist zu kalt. Lass uns gehen.“
„Du hast doch was! Was ist los mit dir?“
Er sah sie an. Besorgt, Irritiert. Ahnungsvoll.
„Ich glaube, ich habe etwas verloren“, sagte sie langsam und sah an ihm vorbei.
Der Regen war stärker geworden.

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die traurige Hase im Emsland

zu meinen Texten 

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Die Befreiung der Sexualität hat nie wirklich stattgefunden – Unterm Strich – X.

 

Vereinigung

Wir liegen eng umschlungen
Haut an Haut und20031202-erotik1.jpg
Mund an Mund und
Fleisch an Fleisch.
Und Stirn an Stirn.
Dein Auge lächelt.
Ich kann mich sehen
dort in deinem Blick.

Ich sehe glücklich aus.

Wenn ich dann deine warme Hand
an meiner Möse spüre,
und wenn ich deine
dicht behaarte Scham berühre,
und deinen Schwanz,
der mich bereits erwartet hat,
dann fühle ich es wie Gesang
in mir, ein Schluchzen
und ein bitter süßes Sehnen,
das immer süßer wird
und immer wilder,
ein Sog, der mich hinwegspült,
keine andre Wahl erlaubt,
als dass ich der Begierde folge und
atemlos und wie von Sinnen
in diese Schlucht hinunterstürze.
Zu dir.
Ich falle schwerelos hinab
in einen weiten, dunklen Grund,
den immer wieder grelle
Blitze überschütten und der
am Ende dann von Lichtern
gänzlich überströmt
für eine kurze Weile
fast dem Himmel gleicht.

Wenn du dann still
in meinem Leibe ruhst,
so spricht dein Schwanz zu mir
so sanft. Gerührt
empfange ich die Botschaft
und sende voller Zärtlichkeit
an dich zurück, was meine Seele
und jede Faser meines Körpers
sagen will.
Dass ich dich liebe.

A. Menke

 

 

Viele Jahre meines Lebens, immer wieder in langen Phasen zwischen zwei Liebschaften oder auch nach den ersten zwei, drei Jahren einer festen Beziehung war mir Sexualität so entfernt und fremd, dass ich gar nicht glauben konnte, dass sie für andere Menschen wirklich eine reale Kraft ist, die ihr Leben bestimmt.
Und obwohl ich in meinen aktiven Phasen das selber genau so empfand wie alle anderen und meine Sexualität in mir lebte wie ein kleines, gieriges und gleichzeitig sehnsüchtiges Tier, dass ich pflegen und streicheln, ernähren und beruhigen musste, entfielen mir immer wieder für Jahre das Wissen um diese Realität und die Gewissheit der körperlichen Gefühle und Sehnsüchte. In diesen Zeiten betrachtete ich das turtelnde und aufreizende Treiben um mich herum mit Skepsis und der festen Überzeugung, dass sich die ganze Welt in diesem Punkt selber eins in die Tasche lüge. Sexualität war dann für mich ein nicht wirklich existierendes Phänomen, etwas von den anderen Erdachtes, was sie wie ein Spiel betrieben, ohne wirklich einen Ball zu haben.

Doch irgendwann wurde jedesmal mein Sexualtrieb wieder geweckt, meist ja von irgendeiner neuen Liebesbeziehung. Und dann gehörte das sexuelle Empfinden zu meinem Alltag wie das Essen und das Trinken, wie das Atmen müssen, als immer wiederkehrendes, alltägliches und – wenn unerfüllt – recht heftiges Bedürfnis. Und dann verstand ich meine sexuelle Blindheit der langen Zeit davor nicht mehr.
Warum ist das so gewesen? Mein Mann würde sofort meine katholische Erziehung anführen. Vielleicht hat er nicht ganz Unrecht. Empfindlich für Widersprüche und Scheinheiligkeit habe ich als Kind immer wieder darüber nachgegrübelt, wieso etwas, was Sünde und verboten war, etwas, was die heilige Jungfrau Maria wegen der offensichtlichen “Dreckigkeit” von Sexualität einfach mittels des Engels Gabriel übersprang, um Jesus bekommen zu können, wieso genau das dann in einer Ehe auf einmal gut sein sollte, sogar Pflicht, wie ich hörte und von Gott gesegnet. Da stimmte irgend etwas ganz und gar nicht, fand ich schon als Kind. Entweder war Sexualität so natürlich wie das Essen und Trinken und Atmen oder es war ein Hirngespinst, eine schlechte Angewohnheit, ein Laster. Ich entschied mich mit dem Kopf dafür, Sexualität als natürlich anzusehen und den lieben Gott nach Hause zu schicken samt seiner Kirche und seinen angeblich über jede Sexualität erhabenen Priestern, die heimlich uneheliche Kinder in die Welt setzten. Aber fühlen konnte ich sie lange nicht wirklich.

 

Dann kam die sogenannte sexuelle Revolution, die uns befreite von Doppelmoral und einem Leben im Verbotenen, die es ermöglichte, als 20jährige die Pille zu bekommen und den alten “Fluch” freier Sexualität, die ungewollte Schwangerschaft, als biografisches Risiko auszuschließen. Der Weg zur Lust war frei.
Aber der Druck, die Pflicht, der Gruppendruck blieben, sie hatten nur andere Gesichter. Befreit waren wohl möglich die Männer. Ich als Frau erlebte diese Befreiung zwiespältig: Ab jetzt war frau einfach out, wenn sie an Sexualität kein Interesse hatte. Ab jetzt galt es als Qualität, viele und aufregende sexuelle Erfahrungen zu machen, obwohl der “gute Sex” noch gar nicht erfunden war.

 

Wir hatten weder gelernt, dass Sexualität etwas ist, was man lernen muss, noch dass es eine individuelle Ausdrucks- und Erlebnisweise der Sexualität gibt. Wir hatten nicht gelernt, nein zu sagen, wenn wir nicht wollten und ebenfalls nicht, unsere Bedürfnisse zu zeigen und offen auszusprechen. Und ich habe die Zeit in den 68ern verpasst, wo in Frauengruppen die eigene Sexualität in beherzten Entdeckungsreisen zur eigenen Vagina neu begriffen wurde. Damals fand ich das albern und fühlte mich darüber erhaben.
Die sexuelle Welle rollte so dahin. Mir brachte sie leider für etliche Jahre sexuelle Apathie und Angst in meiner ersten Ehe ein, weil ich mich gefangen fühlte im Wissen darum, dass dieses Selbstverständliche verdammt noch mal eben selbstverständlich war und ich mich dem zu beugen hatte. Ich hatte einfach kein Recht dazu, keine Lust zu haben.

Warum ich trotzdem in der Lage war, mit neuen, anderen Lovern sexuelle Lust (wieder-)zu erleben, habe ich lange nicht begriffen.
Meinen ersten Orgasmus erlebte ich erst mit 30, viele Jahre später, als ich endlich gelernt hatte, zu onanieren und zu begreifen, dass es sich um meine Lust handelt und nicht darum, einer anderen Lust zu dienen.
Die Bücher von Shere Hite waren für mich in den späten 70ern wahre Entdeckungen. Endlich sprachen zumindest andere Frauen offen über ihre Sexualität und der Zwang in mir, irgend eine Norm erfüllen zu müssen, ließ deutlich nach. In meiner neuen Frauengruppe befassten wir uns nicht mit unserem Körper aber wir begannen, über Sexualität zu reden und die der Männer zu erforschen. Wir begannen, in der ganzen Angelegenheit eine aktive Position zu beziehen.

 

Die Unterschiede männlichen sexuellen Begehrens und sexueller Aktivität zu denen der Frauen wurden mit immer klarer: Immer glaubten die Männer, durch Sexualität Beziehungsprobleme lösen zu können, während ich meinte, erst sprechen, mich austauschen, mich meiner und seiner Gefühle vergewissern zu müssen, damit ich wieder Lust haben und mit ihm schlafen konnte. Solange es nicht erforderlich war, Probleme zu kommunizieren, klappte die Sexualität gut. Dann aber versiegte sie, weil mir mein Gefühlstau an Konflikten, Unzufriedenheit und Ärger über den Partner den Weg zu einer unbeschwerten gemeinsamen sexuellen Kommunikation verwehrte.
Das ist bis heute so geblieben.

 

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Inzwischen ist Sexualität in der Gesellschaft zu einer allgegenwärtigen Angelegenheit geworden. Etwas zu verschweigen oder die Intimität zu wahren hält kaum mehr jemand für notwendig. (Die romantische Gegenbewegung ist allerdings auch nicht zu übersehen. Bald wird es wieder etwas gelten, als Jungfrau zu heiraten.)
Kaum ein Roman, der heute geschrieben wird, verzichtet auf ausführliche, möglichst drastische und an die Ekel- oder Schmerzgrenze gehende Schilderungen von Sexualität. Gekratzt und gesucht wird nach Tabus, die man noch brechen kann.
Als ich vor ein paar Jahren die Elementarteilchen und von
Michel Houellebecq las, begegnete ich der skurillen Karikatur einer Sexualität, wie ich sie in dieser Gesellschaft immer wieder empfunden habe: eine aus allen menschlichen Zusammenhängen herausgelöste verselbständigte Technik von dauernder und unersättlicher, weil nie wirklicher, auch emotional befriedigter Lust. Und die Lektüre dieser Sex-Szene hatte wenig Anmachendes sondern erzeugte eher Langweile und Ungeduld in mir.
Berührt hat mich aber dabei, dass diese Sexualitätskultur nicht in Gewalt und Unterdrückung mündete, sondern wie ein großes, höfliches Gesellschaftsspiel praktiziert wurde, auf der Basis von Toleranz und Respekt, basierend scheinbar auf einer Vereinbarung, sich gegenseitig instrumentell zur Verfügung zu stellen, um die ständig bestehende Bedürftigkeit zu befriedigen. Gefühle und Empfindlichkeiten hatten dabei keinen Platz, auch keine Eifersucht.
Fast kam es mir so vor, als ließe mich dieser Autor durch einen utopischen Park der Menschheit wandern, in dem die Erfüllung aller Sehnsüchte endlich erlaubt und Scheinheiligkeit und Eitelkeit verbannt schienen. Ein friedliches Bild. Und es irritierte nur ein klein wenig, dass die Menschen sich an jeder Wegbiegung fickten. Eine Art menschliches Paradies, so schien es fast.
Aber immerhin wird bei
Michel Houellebecq die ganze Brüchigkeit dieses scheinbaren Paradieses markiert: Als die körperlich ziemlich anstrengenden Praktiken bei der Protagonistin eine körperliche Verletzung auslösten und sie fortan an den Rollstuhl ketteten, konnte ihr Freund aus dem Zirkel seiner Pseudobefriedigung nicht ausbrechen und ließ sie allein. Und sie, die nichts anderes erwartet hatte, nahm sich das Leben.

Ich teile diese implizite Botschaft:
Sexualität kann, so denke ich, sehr wohl auch Selbstzweck sein, für Männer wie für Frauen, aber wenn dieser Selbstzweck sich ablöst und eine zwischenmenschliche Beziehung, die mehr beinhaltet als sexuelle Befriedigung, nicht zulässt, ist dieses Paradies erbärmlich.
Sexualität ist in unserer Gesellschaft längst zur Ware geworden, deren Qualitätsmerkmale allgemein bekannt und bindend sind: Sexualität ist an Attraktivität, an Schönheit, an bestimmte live style-Merkmale gebunden. Sie ist in ihrer vermarkteten Allgegenwart allmählich ziemlich lästig. Und ich frage mich oft, wer da wirklich bedient wird? Die Wirtschaft natürlich. Aber vielleicht auch viele Männer, deren sexuelle Bedürfnisse offenbar an allen Ecken angestachelt werden. Aber die Frauen? Ihnen wird wieder einmal vorgegeben, wie sie zu sein haben, um selber solche Bedürfnisse auszulösen. Und alles, was man dazu braucht, gibt es natürlich zu kaufen. Doch, ich muss es eingestehen, ab und an gibt es auch mal den Versuch, Frauen als sexuell aktive und fordernde Wesen darzustellen. Aber auch das wird für viele Frauen eher einen Leistungsdruck auslösen als so etwas wie Selbstbewusstsein. An die Männer, die unter Druck stehen, weil sie nicht diese Sexprotzen sind oder sein möchten, wie sie von allen Plakaten heruntergrinsen, wage ich gar nicht zu denken. Ich weiß, dass es sie auch gibt. Aber was solls: Die Scham ist wahrhaftig vorbei, im Guten wie im Schlechten. Aktive und “gute” Sexualität gilt als Muss und als ein Zeichen für Vitalität und Attraktivität. Und genau deshalb ist Sexualität keineswegs befreit und hat so auch wenig Befreiendes.

Und dennoch: Viele Jahre meines Lebens habe ich so empfunden und denke, es wäre schön gewesen, es immer zu wissen:
Sexualität ist nicht alles. Und nicht alles ist durch sie bestimmt. Aber sie gehört zum Leben wie das Essen und Trinken und Atmen. Sie dient vordergründig der menschen Fortpflanzung, so wie die anderen natürlichen Bedürfnisse dazu dienen, das Leben zu erhalten. Aber sie ist ebenfalls Quelle von Lust, von lustvoller Erfahrung des eigenen Körpers und der eigenen Person und gleichzeitig eine wunderbare Chance, diese Lust mit einem anderen Menschen gemeinsam zu erleben.

Und in diesem Sinne hoffe ich, dass Sexualität, meine ganz eigene, die, die ich als lustvoll und befreiend empfinde, mich auch im Alter weiter beglücken wird.

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