Nachdem ich heute Nachmittag die – ich weiß nicht wievielte – Korrektur meines Buches abgeschlossen hatte und es draußen schon seit Stunden düster tröpfelte, beschloss ich, mir endlich mal wieder in unserer Laube etwas zum Lesen auszusuchen. In unserer Laube „haust“ unsere gesamte Belletristik und wir nennen sie deshalb die Bibliothek. Meine alte Leseleidenschaft ist in den letzten Monaten wieder mal etwas unter die Räder gekommen. Also frsich ans Werk!
Ich schwanke ein wenig zwischen Heines Gedichten, Defoes „Die Pest in London“ und – ja, das ist es: Das „Treffen in Telgte“, von Günter Grass (1979).
Ich bin eigentlich nicht gerade ein Grass-Fan. Aber ich las dieses Bändchen vor zig Jahren und habe es in guter, amüsanter Erinnerung. Außerdem klingeln beim dem Namen Telgte bei mir liebe Jugenderinnerungen, habe ich doch in der Provinzialhauptstadt von Westfalen studiert, anno 68ff.
Und dann noch etwas: Ich möchte nachschauen, wie bei Grass der Paul Gerhardt wegkommt, der Kirchenlieddichter, mit dessen Liedern mir kranich seit ein paar Tagen eine CD vorspielt, die mir gut ins Ohr schmeichelt, aber mich etwas peinlich berührt, weil sie mich an alte Kinder-Gottesdiensttage und an spätere, katholisch-jugendbewegte Jahre erinnert: „Du kannst die Welt verändern, pack mit an“. Das habe ich dann später weniger katholisch ausgelegt….
Das Lied von der güldenen Sonne, das ich so gerne habe und dass jetzt unter Paul Gerhards Liedern auftaucht, hat kranich mir vor ein paar Wochen weggekrittelt , es sei ja doch auch mit der Sonne nur der liebe Gott gemeint. Fand ich nicht. Fand ich zu eng gesehen.
Aber die CD gibt kranich Recht.
Also lese ich an diesem düsteren Sonntagnachmittag Grass, mache mich auf die Suche nach jenem Paul Gerhard, tauche ein in jenen kleinen westfälischen Ort am Emsufer.
Es ist die Landschaft meiner Studienjahre. Wie oft saßen wir abends und in die Nacht hinein am Emsufer und diskutierten über die Welt, weniger über Gott, , über Vietnam, die Notstandsgesetze und natürlich über Kunst. Und mancher sprang nackt zur Abkühlkung ins Emswasser und tummelte sich zusammen mit kleinen Wasserratten am Schilfufer. Mit dem ersten Morgenlicht sahen diejenigen von uns, die noch geblieben waren, Schwäne die Ems entlang gleiten in Richtung der aufgehenden Sonne.
Heute Nachmittag nun sehe in in meiner Jugendlandschaft die Gruppe der Barock-Poeten Quartier beziehen und mit ihrem Treffen versuchen die deutsche Sprache und das zerstörte und zertrampelte Vaterland zu retten. Wie sie sich wichtig nehmen, wie sie debattieren, sich erhitzen! Es ist ein Vergnügen sie zu beobachten mit ihren widersprüchlichen Charaktere und Ansichten,, ihren verschiedenen Richtungen und Stilen, ihren Marotten und geheimen Sorgen und mit ihren Weisheiten und Lächerlichkeiten, ihren Eitelkeiten vor allem – und ich begegne mit Überraschung und Respekt dem, den ich beinahe vergessen hatte: dem Simpel: frech, lebendig und stark, dem späteren Verfasser des ersten deutschen Romans, Grimmelshausen. Hier ist er noch ein unbekannter aber voranstürmender Haudegen mit einem scharfen Blick für die Wirklichkeit, die politischen Verlogenheiten und die Leiden und Leidenschaften der Menschen. Für die versammelten Poeten eher ein Störenfried ihres dichterischen Hains. Von allen steht er als einziger heute in meiner Bibliothek.
Paul Gerhard ist auch dabei und kommt bei Grass recht und schlecht weg als bigotter, biederer, integrer und vor allem tieffrommer Mensch, der die Gottesverehrung seiner Lieder offenbar wirklich ernst nimmt. Also meint er wirklich nicht die Sonne, sie reicht ihm nicht, sie ist ihm nur ein Abglanz Gottes. Nun gut. Dennoch gefallen mir die Melodien, die andere zu seinen Texten gemacht haben.
An diesem langen, verregneten Juli-Sonntag lasse ich die 3,4 Sommertages des Tegter-Treffens an mir vorüberziehen. Es ist merkwürdig, dass das schon 300 Jahre her sein soll, 359 Jahre, um es genau zu nehmen. Als ich las, kam es mir so vor, als sei dieses Treffen eben erst zuende gegangen.