Bringeschuld Attraktivität – erledigt! – Unterm Strich – VIII.

rosen-auf-schrank-klein.jpg

 

 

 

 

 

vergänglichkeit der schönheit

Es wird der bleiche tod mit seiner kalten hand
Dir endlich mit der zeit um deine brüste streichen /
Der liebliche corall der lippen wird verbleichen;
Der schultern warmer schnee wird werden kalter sand /

Der augen süsser blitz/ die kräffte deiner hand /
Für welchen solches fällt / die werden zeitlich weichen /
Das haar / das itzund kan des goldes glantz erreichen /
Tilgt endlich tag und jahr als ein gemeines band.

Christian Hofmann von Hofmanswaldau (1616-79)

 

 

 

Die Schönheit ist die Potenz der Frau.

Um sie wird ein furchtbares Gewese gemacht, auch und gerade von uns selbst. Um ihr langsames Verschwinden noch mehr. Irgendwann fängt frau an, jünger aussehen zu wollen. Attraktivität wird anstrengend, wird zum ständigen Leistungsprogramm. Erfolge sind heute freilich viele Jahre noch durch Mühe und Aufwand möglich. Es gibt Zeiten, wo frau sich sogar attraktiver findet als in jungen Jahren, reifer, ausdrucksvoller, erfahrener, wo sie lacht über die glatten, schönen aber puppenhaften Gesichter der Jugend.
Später geht dann der Kampf darum los, doch wenigstens noch so auszusehen wie vor drei Jahren. Auch den kann man gewinnen. Nur sind es jedes Jahre andere drei Jahre. Irgendwann muss sie es sich eingestehen: Sie wird von den wenigsten Männern überhaupt noch zur Kenntnis genommen, von älteren vielleicht, von solchen, die 10 Jahre älter sind als sie. Die Gleichaltrigen würden sich nie mit so alten Weibern abgeben.

 

 

Der Blick in den Spiegel zeigt untrüglich eine ältere Frau. Der Hals und die Hände können am schlechtesten lügen. Auch die Haut, mit 50 vielleicht noch erstaunlich glatt “für dieses Alter”, nimmt sich dann eben mit 60 ihr Recht darauf, zu zeigen, dass sie längst nicht mehr im Dienst ist, im Dienst der gegenseitigen Geschlechteranziehung, der Verpflichtung zur Attraktivität.

Das Auge der Liebe kann all das dennoch mit Freude sehen, kann sehen, was war und das mögen, was ist. Das ist schön und ein Geschenk. Aber ansonsten ist sie so gut wie ausgeschieden aus dem ewigen Reigen. Warum eigentlich auch nicht?
Ich weiß, dass ich nie zu den alten Damen gehören werde, von denen man sagt, dass man noch sieht, dass sie einmal schön waren, auch nicht zu denen, die eine vitale und charmante Ausstrahlung haben. Ich war in meinem Leben viel zu viel traurig, viel zu oft sauer, viel zu sehr enttäuscht. Und nicht die glücklichen Momente finde ich eingegraben in meinen Zügen sondern die anderen. “Warum gucken Sie immer so böse?”, werde ich manchmal gefragt. Ich stelle fest: ich sehe einfach jetzt so aus. Ich bemühe mich zu lächeln, damit man nicht denkt, dass ich böse sei. Aber immer geht das nicht.

 

Noch vor drei, vier Jahren bin ich jedesmal zusammengezuckt, wenn ich mein Gesicht im Spiegel neben dem meiner Tochter gesehen habe. Diese Glätte, diese ungetrübte Schönheit, dieser Lockruf an das Leben! Und ich daneben, müde, ernst, geschafft, mit unerwünschten Falten um den Mund!
Wenn ich mein Gesicht heute im Schaufenster sehe, schaue ich jetzt manchmal sogar neugierig hin, statt vor meinem Anblick zu erschrecken. So also ist das, alt zu werden.
Dass ich für Männer unter 55 unsichtbar zu sein scheine, empfinde ich nicht mehr verletzend, sondern beinahe angenehm. Ich muss mich nicht mehr anstrengen, ihnen zu gefallen. Ich muss mich nicht mehr vergleichen mit anderen Frauen, mit attraktiven Frauen, schon gar nicht mit jungen Frauen. Ich versuche möglichst frisch und jung zu sein und zwar für mich selber. Ich versuche es, um meiner Freude am Leben Ausdruck zu verleihen und vielleicht für den, der noch sieht, das ich eine Frau bin.

 

Die Frage, wie ich aussehe, interessiert mich inzwischen weniger als die Frage, wie die Welt um mich herum aussieht. Ich bin dankbar, dass meine Augen die Welt noch sehen können, dass ich den Wind noch spüren kann, dass ich noch Musik hören und mit meiner Blockflöte himmlische Klänge erzeugen kann, die so jung klingen, als würde eine 15 Jährige sie erzeugen.

.

 

 

Veröffentlicht unter Frauen & andere Menschen | Schreib einen Kommentar

Die versteinerte Prinzessin

Märchen

Mechthild Seithe

Es war einmal eine Königstochter,

die war sehr schön und alle Leute liebten sie, weil sie immer fröhlich war. Als sie fünf Jahre alt geworden war, verzauberte eine böse Fee sie in eine steinerne Brunnenfigur. Im Schlosshof ihres Vaters sollte sie 50 Jahre lang stehen und erst dann würde sie wieder zum Leben erwachen.

blumenwiese.jpg
Blumen am Oderbruch

Die Leute kamen und bestaunten die hübsche, kleine Prinzessin, die dort im Brunnen mit dem steinernen Drachen zu spielen schien.

Das klare Wasser perlte an ihrem steinernen Körper herab und füllte die Brunnenschale, aus der die Menschen sich erquickten, wenn es heiss war. Im Winter war die kleine Prinzessin über und über mit einer Eisschicht bedeckt. Aber sie spürte es kaum. Sie wartete.
Jedoch in all den vielen Jahren und Jahrzehnten kam kein Prinz und kam kein Zauberer, der sie erlösen wollte. Und so blieb sie ein halbes Jahrhundert im Brunnen auf dem Schlosshof stehen. Inzwischen waren der König und seine Frau gestorben und das Königreich gehörte längst einem anderen Herrn. Und die Leute vergaßen allmählich, wer sie war.

Als die 50 Jahre herum waren, merkte die Prinzessin in einer Vollmondnacht, dass sie sich wieder rühren konnte. Vorsichtig bewegte sie ein Glied nach dem anderen und stieg dann langsam von ihrem Sockel im Brunnen herunter. Als sie aber ihr Spiegelbild im Wasser sah, erschrak sie zu Tode. Da erblickte sie kein hübsches, kleines Mädchen, als das sie sich in Erinnerung hatte, dort sah sie eine alte Frau. Nun war sie also wirklich 55 Jahre alt und all die Jahre, die sie in Stein verwandet gewartet hatte, waren verloren. Da setzte sich die Prinzessin an den Brunnenrand und weinte bitterlich. Auf einmal spürte sie, dass sie jemand berührte. Es war der steinerne Drache, mit dem sie all die Jahre zusammen im Brunnen gestanden hatte.
„Bist du auch verzaubert gewesen wie ich?“, fragte sie erstaunt.
„Nein. Aber ich bin beauftragt, dir zu dienen, wenn du wieder lebendig bist. Ich kann dir viele Wünsche erfüllen“, entgegnete der steinerne Drache freundlich.
„Kannst du mich wieder jung machen?“ fragte die Prinzessin hoffnungsvoll.
„Nein, das geht nicht. Du bist wieder lebendig, aber die 50 Jahre sind verflossen und du bist jetzt eine alte Frau. Aber ich könnte dir dazu verhelfen, dass du dich wieder jung fühlst“, bot ihr der Drache an.

weiterlesen

.

Veröffentlicht unter Allgemein | Schreib einen Kommentar

Die Kinder sind wieder fort – Unterm Strich – VII.

 

 

Gedanken an die Tochter
Die Jahre, die ich ganz in deiner Nähe war,
sind längst Vergangenheit.
Die Zeiten, wo ich hätte
meine Tochter trösten können,
sie sind vorbei und sind vielleicht vertan.
.
Mir bleibt es nur, zu wünschen und zu hoffen,
dass dir das Leben nicht nur Wunden schlägt
und irgendwann die Liebe dir begegnet und auch bleibt
und zart und so, wie Mütter und Geliebte es nur können
mit sanfter Hand die Tränen dir von deinen Wangen streift.

.

Mechthild Seithe

mechthild-1.jpg


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mit sechzehn hatte ich beschlossen, keine Kinder zu kriegen. Mit 30 fing ich an, mich nach einer eigenen Familie zu sehnen. Ich hatte den Wunsch, Kindern diese Welt zu zeigen, die Schönheiten und all das, weshalb es sich lohnt, zu leben. Ich hatte die Vorstellung, sie schützen zu können vor dem, was diese Welt an Hässlichkeiten und Brutalitäten zu bieten hat. Zumindest traute ich mir zu, sie widerstandsfähig und stark zu machen.


Viele Jahre meines Lebens war dann Familienzeit. Das Kinderhaben dominierte mein Denken und die Zeit, die mir neben der Arbeit blieb. Es gab viele wunderbare Erfahrungen und Momente in dieser Zeit. Unsere Fotoalben sind voll mit Bildern der drei Kinder.
Neulich habe ich zur Vorbereitung meines 60. Geburtstages Fotos von mir gesucht und festgestellt, dass in all diesen dicken bunten Alben fast keine Bilder von mir sind.

Die Phase meines Lebens, die ich vor allem Mutter sein sollte, habe ich genossen. Sie hat aber auch an meinen Kräften gezehrt.
Die gesellschaftliche Anerkennung, die ich plötzlich abbekam, seit und weil ich nun auch Mutter war, hat mich irritiert. Ich hatte nie das Gefühl, nun endlich ein Ziel erreicht zu haben, eine Erfüllung zu erleben, die mir gefehlt hatte. Ich identifizierte mich weiterhin mit Frauen, die als Frauen und nicht als Mütter ihr Leben meisterten.
Für mich hat das Kinderkriegen nie notwendig zum Leben gehört oder gar zu einem erfüllten Frauenleben.

 

Dennoch habe ich also drei Kinder bekommen und sie inzwischen auch groß gekriegt. Die Ältesten sehe und spreche in großen Abständen, weiß ein wenig von ihrem Leben, aber das Wichtigste weiß ich wahrscheinlich nicht.
Die Jüngste wird im Herbst anfangen zu studieren. Im Vorfeld braucht sie mich noch sehr. Das Große, Neue vor ihr, macht ihr noch ein wenig Angst, sie möchte wie ein Kind gestützt und getröstet werden. Aber ich denke – und hoffe – dass ihr neues Leben sie mitreißen und auch von mir und meinem Rockzipfel fortreißen wird.

Dann wird es auch für sie gelten: Ich bin für meine Kinder nicht mehr alltäglich nötig und auch nicht mehr wirklich wichtig für ihr Alltagsleben (vielleicht noch wichtig im Hintergrund, das schon) und ich bin darüber – ehrlich gesagt – eher erleichtert.
Als ich 43 war und an einer scheußlichen Migräne litt, tröstete mich eine Ärztin mit der Vermutung, dass diese Migräne aus meinem Leben wieder verschwinden könnte, wenn meine Kinder älter sein würden.
So war es. Weit über 24 Jahre lang war mein Leben von den Kindern bestimmt, beeinträchtigt, natürlich auch beglückt, erfüllt…. Als es nun vorbei ging, fand ich wieder zu mir.

Natürlich mache ich mir auch heute Sorgen um sie, bin bedrückt, wenn es ihnen nicht gut geht, freue mich, wenn sie vorbeikommen oder anrufen, wenn ich sie sehe.
Wenn sie mich brauchen, stehe ich auf der Matte, natürlich. Ich bleibe ja ihre Mutter und stehe auch dazu. Und ich wünsche ihnen von ganzem Herzen, dass ihr Leben erfüllt sein möge.

Aber auch in meinem Leben spielen sie nicht mehr die Hauptrolle. Ich bin längst wieder nicht mehr nur Mutter sondern eine Frau mit einem eigenen Leben.

Irgendwo in mir steckt die Sehnsucht nach einer anderen Beziehung zu meinen Kindern, einer eher freundschaftlichen, einer, die nicht nur auf der Mutter-Kind-Beziehung basiert sondern darauf, dass wir uns gegenseitig wirklich sympatisch sind und uns was zu sagen haben. Vielleicht gibt es sowas. Vielleicht ist das eine Illusion und all die vielen Familienzusammengehörigkeitseuphorien um mich herum beruhen eben doch nur darauf, das Blut dicker ist als Wasser.

Natürlich liebe ich meine Kinder. Aber ich stelle fest, dass sie wenig mit mir wirklich teilen.. Sie wissen nicht, was mich bewegt. Und wenn ich es ihnen versuche zu sagen, hören sie weg, so wie sie immer weghörten, wenn Mutter was erzählte. In unserer Verbindung war alles darauf ausgerichtet, dass es ihnen gut ging, nicht mir. Ich spüre nicht, dass sie wirklich Interesse an dem Menschen haben, der ich heute bin, an meiner Arbeit, meinen Gedanken, meinen Befürchtungen, an meinem Glück. Wenn sie sagen, dass sie mich lieben, so gilt das der Mutter, die ich für sie war und irgendwo im Hintergrund immer sein werde. Nicht aber mir als Mensch. Für sie bin ich nichts als ihre Mutter. Ihre Mutter und ich, dass ist nicht ganz und gar die selbe Person.
Ich nehme es ihnen nicht übel. Dennoch macht es mich traurig.

 

 

Ich bin in meinem Beruf tagtäglich mit jungen Menschen zusammen. Inzwischen sind meine StudentInnen durchweg im Alter meiner Kinder. Und ich lerne hier junge Menschen kennen, die ich interessant, sympatisch finde, von denen ich mir wünschen würde, dass sie mir vertrauter wären, mit denen ich gerne befreundet sein würde.
Natürlich bin ich Mutter meiner Kinder und würde immer zu ihnen stehen, für sie da sein, wenn sie mich brauchen, aber ob ich wirklich mit ihnen befreundet sein möchte, ich weiß es nicht.
Sicher wären Sie traurig oder eifersüchtig, wenn sie das wüssten.

 

Vielleicht habe ich da was falsch gemacht. Mag sein. Aber es ist nun so wie es ist und ich bin nicht mehr nur das Muttertier und auch nicht das Korn, dass sterben muss, damit das junge Pflänzchen aufgehen kann, ich bin wieder ich.

Enkel habe ich keine, sind auch keine in Sicht. Ich weiß, dass sich dadurch manches ändern kann und könnte. Ich kenne so viele Menschen in meinem Alter, die durch das Erleben des Heranwachsens der nächsten Generation eine Erfüllung in ihrem Leben finden. Ich vermisse es nicht. Wenn es so käme, ich weiß nicht, wie ich mich verhalten würde.

.

 

 

Veröffentlicht unter Frauen & andere Menschen | Schreib einen Kommentar

Schöne neue Welt – Unter dem Strich – VI.

 

rolltreppewien.jpg

m.s. Wien

 

An die Nachgeborenen
Dies ist keine Welt,
die wir euch mit Stolz hinterlassen.
Dies ist das Reich des Wolfes im globalen Pelz.
An seinem Hof herrscht der allmächtige
Spaß, und das Gerappel der Kassen
füllt die Hirne und Herzen.
Wir haben versucht, unsere Welt zu verändern.
Darüber sind wir alt geworden.
Diese hier wollten wir verhindern.
Es ist uns nicht gelungen.

 

Heute gehe ich angewidert und tatenlos
ein und aus in der plastikknisternden Welt
des Wolfes. Hofnärrin und müde.
Das Leiden der Menschen sehe ich
auf dem Bildschirm und manchmal
an den Straßenecken. Noch immer
schlägt dann mein Herz die Hände
vors Gesicht und weint. Ihr aber
schreitet achselzuckend mitten durch.
Das macht mich traurig.

Mechthild Seithe

 

 

 

 

 

Wir wollten eine andere Welt, als wir 68 wach wurden und die Augen aufrissen.
Unsere Kämpfe und Bemühungen haben eine Epoche eingeleitet, die sich mit ein paar Jahrzehnten Verzögerung nun gegen uns und gegen die Menschheit richtete:
Der Markt, immer erkannt als der Feind wirklicher Menschlichkeit, aber wie es uns schien, gezähmt durch die Absicherungen und Eindämmungen des Sozialstaates, den wir glaubten mit gestaltet zu haben, dieser Markt übernahm vor etwa 15 Jahren im vollen Umfang die Weltherrschaft.
Als das große Experiment der Menschheit im 20. Jahrhundert, der Versuch einen anderen Weg für die Welt zu wählen als die Allmacht des Marktes, einen Weg, der versuchte, Gerechtigkeit und Menschlichkeit umzusetzen und die Klasse der Besitzenden abzuschaffen, damit alle besser leben könnten, als dieser Versuch einer sozialistischen Gesellschaft kläglich und bitter scheiterte, konnte der Markt endlich frei durchatmen und seine Fesseln sprengen.
Seit dem scheint er nicht mehr zu halten: Alles was Profit bringt, ist in Ordnung, ist notwendig. Egal, was mit den betroffen Menschen passiert, egal was mit den Produkten angerichtet wird, egal, wen es trifft, egal wohin es führt. Selbst die wenigen Versuche, der gegenwärtigen Gesellschaft, die verheerenden Perspektiven der von Menschen eingeleiteten Umweltkatastrophen einzudämmen, führen unter der Regie des Marktes zu noch größeren Katastrophen: U.a. weil die Amerikaner jetzt Biosprit fahren wollen, um die Umwelt zu schonen, bricht in vielen Teilen dieser Erde eine neue Hungerkatastrophe aus.


Man versucht es uns weiszumachen – aber nein, wir leben nicht in einer globalen, einheitlichen Menschheit: sie ist geteilt in arm und reich und sie ist aufgeteilt in die erste Welt, die zu jedem Preis die erste bleiben will, die neuen Industrieländer, die ihrerseits die ersten werden wollen und angesichts ihrer Produktivität und ihrer Menschenmassen es wohl auch schaffen werden und in die dritte Welt, die für all das zahlen soll. Und diese Fronten und Interessengegensätze werden mit Kriegen ausgetragen: Mit Waffen und mit Lebensmittelpreisen, mit Guantanamo und mit der Jagd nach Andersdenkenden.
Und niemand hier in unserem lieben, befriedeten Deutschland nimmt davon Kenntnis. Der Quark wird teuer. Ärgerlich für die Hartz IV Empfängerin, ärgerlich auch für mich. Aber warum sollten gute Nahrungsmittel billig sein? Dass in Südamerika und Taiti die Menschen vor Hunger anfangen, die Läden zu plündern, kommt vielleicht als aufreizendes Foto mal am Rande in der Tagesschau. Aber wen juckt das?
Wenn heute in Deutschland die Arbeit weggenommen wird, freuen sich die Menschen in einem anderen Land, dass dort Arbeitsplätze geschaffen werden. Wenn heute hier die Arbeit weggeht, kann man mitgehen und dann eben in China leben. Alles scheint denkbar. Die Risikogesellschaft macht fast alles möglich. Es gibt kaum noch Grenzen, weder real noch finanzielle noch moralische.
Die Jungen krempeln die Ärmel auf und versuchen in diesem breiten, reißenden Strom zu schwimmen. Viele erreichen irgendwo ein fruchtbares Ufer. Andere werden untergehen.

 

Armut in Deutschland


Mit dem Kapitalismus der 70er und 80er Jahre lebte ich nicht gerade ausgesöhnt aber doch so, dass ich meine Freiheit genießen, mein anders Denken bewahren und dabei gut leben konnte.
Die heutige Welt aber macht mir Angst. Ich fürchte, meine Kinder werden in einer toten, formalistischen, in einer entmenschten Welt leben und sich in einer von brutalen Angriffskriegen geprägten Zeit
über Wasser halten müssen, in der die westliche Welt ihre Überlebenskämpfe ausführt.

Und ich habe Angst, dass sie und all die anderen das gar nicht merken, weil sie es nicht anders kennen und keine Alternative wissen. Und auch keine träumen.
Der Markt ist inzwischen in allem gegenwärtig und gilt als Motor, als Seele jeder Entwicklung.
Der entfesselte Kapitalismus kam von Anfang an daher wie eine Naturgewalt: nationale Grenzen schwanden, die Globalisierung stand ins Haus und die technischen Erfindungen unserer Zeit, die Zeit- und Raum überwindende Technik des Internets, die Computer, die Logistik, die Länder und Kontinente zusammenschrumpfen ließ und schließlich die Gentechnologie ließen sich weder bremsen noch kontrollieren. Sie waren da. Und wie am Beginn der Menschheit die Beherrschung des Feuers alles auf den Kopf gestellt haben dürfte, was bis dahin gegolten hatte, so ist es auch heute. Nichts ist wie vorher. Nichts scheint mehr zu gelten. Bewährte Sicherheiten und moralische Festungen lösen sich auf. Wer sagt, dass die Welt gerecht sein sollte? Wer sagt, dass alle Menschen einen Anspruch haben, in Würde zu leben? Die Ungleichheit zwischen den Menschen ist der Motor für den Fortschritt der Menschheit, sagen statt dessen die Diener und Dienerinnen des Marktes.

Die alte Welt, allen voran die USA versucht längst – nachhaltig – ihre Vormachtstellung und ihren Reichtum in dieser Welt zu sichern, indem sie sich die Zugänge für Rohstoffe unter den Nagel reißt. Wenn es sein muss, durch Krieg, durch Betrug, durch die Unterstützung von Kräften, die die Menschen unterdrücken und auspressen. Und all das wird moralisch verkauft als Kampf gegen den angeblich so teuflischen Terrorismus, als menschliche Geste und Verantwortung dafür, dass die Welt demokratisch, friedlich gestaltet wird. Tatsächlich ist es der Versuch, die Welt so hinzukriegen, wie sie am besten in die eigene Vorstellung passt.

Wenn Sie ehrlich wären würden Sie Klartext reden: „Würdest du nicht auch kämpfen, wenn am Horizont ärgerliche, hungrige, verzweifelte Leute auftauchen, die dir deinen Hof und dein Gut streitig machen könnten? Würdest du nicht auch versuchen, den anderen ihre Schätze wegzunehmen, wenn du keine mehr hast, mit denen du dein bisheriges Leben weiterfinanzieren kannst. Jeder ist sich selber der Nächste. So war es immer. Alles andere ist Geschwätz.“

Fast wäre mir eine Welt lieber, in der die Motive für das so offen ausgesprochen würde. Statt dessen wird die westliche Welt hingestellt als Hort der Menschenwürde, die es überall zu verteidigen gilt: am Hindukusch, in China, im Iran, …..

So wurden alle Kriege begründet seit Menschengedenken. So outet sich der Mensch als Tier, dass seine Teretorien verteidigt ohne Rücksicht auf Verluste. Nur würden Tiere dies nicht präventiv machen sondern erst, wenn sie sich wirklich bedroht fühlen. Aber wozu hat der Mensch seinen Verstand?

Aber würde sein Verstand es nicht auch hergeben, eine Welt zu schaffen, die anders, wie man so schön sagt „menschlich“ funktioniert? Hatten wir nicht vor Jahrhunderten schon die Aufklärung? Hatten wir nicht schon genug Bewegungen, Philosophien, Gesellschaftstheorien, die weit über dieser Rudeltheorie standen, die der entfasselte Kapitalismus heute verbreitet – mit  weissgepuderten Pfoten und mit Kreide in der Kehle? Und der die Welt damit paralysiert wie King Kong hinter seiner Mauer das Eingeborenendorf?

Diese neue Welt ist mir fremd, bereitet mir Magenschmerzen, ödet und ekelt mich an.
Ich habe das Gefühl, dass am Ende meines Lebens alle unsere Hoffnungen und Ziele ihrer Erfüllung nicht näher gekommen, sondern ganz weit weggerückt sind.

Vielleicht liegt dieses Gefühl auch einfach nur daran, dass ich mich als “Alte” ausgeliefert fühle, nicht mehr viel machen kann, keinen Einfluss mehr habe, nur noch warne und aufkläre, aber nicht gehört werde.
Es ist um mich zu laut. Es ist nicht mehr meine Welt. Sie gehört den Jungen. Klar. Aber das kann ich durchaus akzeptieren.

Schlimm ist nur: was wir den Jungen da überlassen, ist ein trauriges und bedrohliches Kapitel der Menschengeschichte.

Es ist nicht so, dass alle die Kälte und gesichtslose Härte des entfesselten Kapitalismus bejubeln. Es zeigen sich Gegenreaktion, z.B. eine Welle der Entdeckung religiöser und esoterischer Lebenserfüllung. Es entstehen kleine, in sich geschlossene und brave, keineswegs  aufsässige oder gar revolutionäre Bewegungen, wenigsten im kleinen Raume Menschlichkeit zu verwirklichen.
Auch das konservative und zum Teil faschistische Gedankengut, was sich in unserer Gesellschaft wieder breit macht, die Akzeptanz und Duldung von Gewalt gegen Schwächere aller Arten, diese latente Akzeptanz in der Bevölkerung aber auch in der Politik und z.B. bei der Polizei, diese Gewalt und Kaltschnäuzigkeit scheinen mir  Zeichen dafür, dass die Menschen sehr wohl  reagieren auf diese neue Markt gesteuerte Kälte. Aber das Schlimme ist: Sie reagieren jenseits von Menschlichkeit und allen Errungenschaften der Aufklärung. Der Aufstand gegen die Kälte der turbokapitalistischen Gesellschaft kommt eher von rechts. Aber wir wissen es ja, der Markt konnte mit konservativen und speziell auch mit faschistischen Bewegungen schon immer viel anfangen.
Ich fühle mich umstellt.

Aber ich werde nicht wegsehen. Ich werde meine letzten Jahre auf dieser Welt nicht ohne Blick auf die Realität unserer Gesellschaft leben können. Schweigen wäre das Ende.

.

Veröffentlicht unter Allgemein | Schreib einen Kommentar

Neues aus Wildnis und Tiefgarage

Fabeln

Mechthild Seithe

ungeheuer.jpg

sowas bevölkert mitunter meine Träume

Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber…

Ein Wolf trottete durchs Land und kam an einem Kälberstall vorbei. Die Kälber darin blökten aufgeregt und der Wolf lugte neugierig durchs Fenster.
“Was ist bei euch denn los?”, fragte er und überlegte, ob er es wagen könnte einzusteigen und ein kleines Kalb mit sich fortzureißen.
“Wir diskutieren. Morgen ist Wahl!”, verkündigte ein Kalb stolz.
“Was für eine Wahl?”, fragte der Wolf erstaunt.
“Schlächterwahl!”, sagte das Kalb altklug. „Der Fuchs war hier und hat uns mitgeteilt, dass wir in diesem Jahr den besten Schlächter wählen dürfen. Und der, den wir auswählen, der darf uns dann schlachten.”
“Der Bruder Fuchs ist ein Scherzbold”, grinste der Wolf. Aber als er merkte, dass es die Kälber ernst meinten, fragte er: “Und was muss er können, euer Kandidat?”
“Stark muß er sein und schön”, schwärmte das erste Kalb.
“Viele von uns sind auch dafür, dass es vor allem ein Schlächter mit Tradition sein sollte, einer, der schon unsere Eltern und Großeltern geschlachtet hat. Da weiß man doch, was man hat”, ergänzte ein anderes Kalb.
Der Wolf entschloss sich spontan, zu kandidieren, weil er sich große Chancen ausrechnete.
Aber die Kälber entschieden sich für den Schlächter vom Schlachthof am Dorfanger. Denn dort waren ihre Eltern schon hingegangen, wenn es so weit war. Außerdem blinkte dort neben dem Eingang eine silberne Tafel in der Sonne, auf der stand: “Schlachthof Weißenhagen”. Die gefiel den Kälbern ausnehmend gut. Sie erinnerte an die Zinnen eines Schlosses.
Der Wolf ärgerte sich und verfluchte den Fuchs, der diesen dummen Tieren so viel Entscheidungsfreiheit zugestanden hatte. Der Fuchs aber kannte einen Durchschlupf zum Schlachthof, und fraß er sich dort an den ausgeweideten Gedärmen nach Herzenslust satt.


Die Freiheit der Mütter

wildschweine-klaus.jpg

Wildschweinszene aus dem Kurpark in Bad Sassendorf

Ein wilder Eber stand mit hängender Zunge am Zaun und guckte sich die Augen aus nach einer dicken rosa Sau, die hinter dem Zaun in einem Gehege mit ihren Kindern im Schlamm wühlte. weiterlesen

Veröffentlicht unter Allgemein | Schreib einen Kommentar

Beratung in der Sozialen Arbeit – eine besondere Heausforderung

 

978-3-531-15424-4.jpg
Neuerscheinung – für SozialarbeiterInnen und alle Menschen, die andere beraten ……

.

… unter anderem, weil die Leute, die hier, im Rahmen Sozialer Arbeit, in die Situation gelangen, beraten zu werden, oft gar nicht so scharf darauf sind.

  • Die Mutter, die Angst hat, dass man ihr vom Jugendamt aus Vorwürfe macht für die Vernachlässigung ihrer Kinder,
  • der Jugendliche, der nach seinem Autoeinbruch zur Jugendgerichtshilfe „zitiert“ wird,
  • der ältere Mensch, der das Gespräch mit der zuständigen Sozialarbeiterin lieber meidet wie der Teufel das Weihwasser, weil er weiß, dass sie ihm immer zureden will, dass sich um einen Platz im Heim kümmern soll …

all diese Menschen sind mit Sicherheit erst einmal nicht motiviert, beraten zu werden bzw. in ein Beratungsgespräch mit dem Sozialarbeiter einzusteigen.

Ganz anders ist das in der Psychotherapie, wo in der Regel ein „Leidensdruck“ vorliegt, eine Bereitschaft, die Beratung oder Therapie auf sich zu nehmen, über sich zu reflektieren, sich ggf. auch zu verändern.

 

Nun kann ja nicht die Konsequenz sein, dass all diese „Unwilligen“ kurzer Hand per Druck oder Überredung zu ihrem Glück gezwungen werden, mit fertigen Lösungen, Verhaltensanweisungen oder Rezepten weitergeschickt werden, ohne dass man sich die Mühe macht, auch diesen Menschen die Chance zu geben, aktiv und im eigenen Interesse an der Lösung ihres Problems beteiligt zu werden.

 

Was also tun?

 

Vor ein paar Tagen ist ein Buch von mir erschienen, dass für diese Problematik einen Weg weist. Ich habe den Ansatz der klientenzentrierten Beratung (im Sinne Rogers) für diese Bedingungen der Sozialen Arbeit weiterentwickelt.

 

kopie-2-von-eunmotivaterbeschwerde-pflews07_0004.jpg

Szene aus einer Rollenspielübung im Rahmen der Übung „Engaging“ an unserer FH: eine Sozialarbeitrin versucht einen Vater zu beraten, der empört ist, dass er sein Kind nicht betreuen darf, obwohl die Mutter es nicht mehr haben will ….

 

 

 

 

„Engaging“ heißt dieses beraterische Vorgehen, das vor allem eins bezweckt: den Klinenten, also unsere Mutter, den straffälligen Jugendlichen oder den alten Menschen aus den Beispielen oben, an der Lösung ihrer Problemlage aktiv zu beteiligen, sie zu motivieren, sich für sich selber wieder zu engagieren und den Lösungsweg für ihre Probleme mitzuentwickeln.

 

Leicht ist das übrigens nicht. Aber es lohnt sich. Soziale Arbeit, die Menschen nicht zu bestimmten Schritten zwingt, sie nicht anweist, sie nicht mit Rezepten abspeist oder mit Druck durchsetzt, was sie von demjenigen erwartet, diese Soziale Arbeit ist wesentlich humaner, effektiver, nachhaltiger und damit sogar effizienter.

 

Wen‘ s interessiert:

Hier die Seite bei Amanzon

 

Veröffentlicht unter Allgemein | Schreib einen Kommentar

Frauen-Emanzipation, Schnee von gestern? – Unterm Strich -V.

Schneewittchen
Schneewittchen, zerschlag
deinen gläsernen Sarg,
wie liegst du denn da, blass und kalt.
Würg schnell den vergifteten Apfel heraus,
stoß den Sargdeckel auf mit Gewalt.

Drum zerschlag deinen Sarg nicht
so zart, du bist stark,
und der lange Schlaf ist nun vorbei,
und der lange Schlaf ist nun vorbei.

Auf den Prinz warte nicht,
der den Zauber durchbricht,
sieh zu, dass du fort bist, eh er küsst.
Steig nicht auf sein Ross,
folg ihm nicht auf sein Schloss,
wo du wieder eingeschlossen bist.

 

Gruppe Schneewittchen

 

 

 

 

Als kleines Mädchen habe ich Bücher gelesen, in denen Jungen Abenteuer bestanden. Alles, was mich in der Welt interessierte und reizte, schien den Männern zu gehören.

 

 

portraitsfotos_frauen_frauen_portraits.jpg

 

 

Alle meine Helden waren Männer. Und ich wusste dabei sehr genau, dass ich ein Mädchen war. Ein Junge wollte ich nie sein. Aber ich beschloss, all diese Schätze und Chancen den Männern abzujagen, ihnen die Zähne zu zeigen, ihre Privilegien zu brechen, ihnen ihre Selbstverständlichkeit, mit der sie den Begriff Mensch und Mann gleichsetzten, um die Ohren zu schlagen.
Wenn mir in meiner Jugend jemand weiß machen wollte, dass Mädchen doch ganz andere, ganz besondere Qualitäten hätten und es deshalb dumm sei, alles zu wollen, was den Männern vorbehalten ist, wurde ich böse. “Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad”, stand bei Anja Meulenbelt und ich liebte diesen Spruch. Ich sehe noch das hilflose Gesicht meines Vaters, als ich ihm diesen Spruch entgegen schleuderte. Er konnte es kaum fassen. In seinen Augen stellte ich offenbar damit die Weltordnung auf den Kopf.

Ich bin weder eine geschlagene noch eine unterdrückte Frau, ich konnte mich selbst verwirklichen und mein eigenes Leben leben. Dennoch war für mich die Frauenbewegung jahrelang die wichtigste und intensivste Bewegung und ich fühlte mich ihr mit einer Intensität zugehörig, wie beinah keiner anderen.
Und auch heute, wo vieles zugegebener Maßen anders geworden ist, wo man fast meinen könnte, dass all meine Mädchenforderungen an unsere Welt erfüllt seinen, auch heute bin ich ab und zu noch immer eine glühende Feministin.

In meinem Psychologiestudium gab es genau so viele Männer wie Frauen. Ich musste mich nicht wirklich mühevoll durchsetzen. Das eigentlich angestrebte Physikstudium hatte ich mir allerdings aus dem Kopf geschlagen, weil ich es mir nicht zutraute, alleine unter lauter Männern zu studieren.
Die Männer, mit denen ich im Laufe meines Lebens befreundet war oder mit denen ich eine Liebesbeziehung eingegangen bin, waren alle Frauen freundlich und keiner hat mich je unterdrückt. Die anderen mieden mich wohl. Schade vielleicht! Eigentlich hätte ich an so einem gerne mal meine Krallen gewetzt.
Ich verdiente später in zwei Ehen das Geld. Ich habe Karriere gemacht und meinem Mann die drei Kinder zu Hause überlassen.

Aber ich habe mich trotzdem immer unterdrückt, zurückgestellt, nicht ernst genug genommen gefühlt als Frau. Es steckte so etwas wie eine Grundverletzung und ein Grundmisstrauen in mir drin. Es war, als könnte ich mich nicht wirklich ernst nehmen, weil ich wusste, dass viele Männer Frauen nach wie vor als Menschen 2. Klasse sahen. Ich wurde im Laufe meiner Frauen bewegten Zeit hoch sensibel für die kleinen Sexismen, die Chauvinismen, die virtuellen Ellenbogen, mit denen sie uns weg schoben und weg schieben, die unverschämte Selbstherrlichkeit, mit der sie im Seminar ihren Unsinn verbreiteten, während die Frauen meist schüchtern oder unsicher schwiegen. Und das ist auch heute so in meinen Seminaren und es ärgert mich stets.

 

 

Die Frauenbewegung erreichte mich eigentlich erst richtig Ende der 70er, Anfang der 80ger Jahre. In der linken Bewegung hatte ich sie vermisst, da war sie immer an den Rand geschoben worden. Der Bericht über ein neues Waschkombinats in einer DDR-Stadt, erlauscht im DDR-Radio in einem Urlaub an der grünen Grenze, empörte mich zutiefst: “Vor allem unseren Genossinnen wird das Kombinat das Leben sehr erleichtern”, sagte der Reporter ohne mit der Wimper zu zucken.  Das hat meiner Sympathie für die DDR damals einen herben Schlag versetzt.

Die Emanzipationsbewegung war für mich die zweite, persönlichere Befreiung nach den 68er Jahren. Auch sie machte mich vor allem lebendig, selbstbewusst und kämpferisch. Und das Solidaritätsgefühl unter Frauen habe ich als wohltuend, als tröstend erlebt. In unseren Gemeinschaften blieben sehr oft auch auf lange Strecken Konkurrenzdruck und heimliche Kämpfe um Posten und Wichtigkeit aus. Im Grunde war die Emanzipationsbewegung für mich eine längst ersehnte Gelegenheit, mich innerlich wirklich nicht nur gleichberechtigt und gleich wichtig zu fühlen, sondern mich auch endlich so verhalten zu können.
„Unter dem Pflaster, ja da liegt der Strand, komm reiß auch du ein paar Steine aus dem Sand”, dieses und die anderen Lieder der Gruppe Schneewittchen sprachen mir aus der Seele. Wir Frauen stellten die männliche Welt als die richtige und beste und nachahmenswerte in Frage. Wir wurden uns unserer eigenen Stärken bewusst. Nach dem Ablegen der Unterdrückung durch eine autoritäre Gesellschaft war es nun an der Zeit, die Unterdrückung abzulegen die die Gesellschaft, die Männer und wir selber uns antaten. Jetzt war es uns nicht mehr genug, als Frau mitmachen zu dürfen. Jetzt konnten wir selber aktiv sein, nicht nur abgeleitete Macht, Stärke und Kompetenz beweisen, sondern eigene entwickeln, eigene Stärke und Macht, die vielleicht auch gar nicht immer so aus sahen, wie die der Männer. Das war der entscheidende Gedanke, dass nicht das Gleichziehen mit dem Mann uns genau so zu Menschen 1. Klasse machte, sondern dass wir diesen gleichen Wert als Frauen schon in uns trugen.

 

Unter dem Pflaster liegt der Strand
Komm, lass dich nicht erweichen,
bleib hart an deinem Kern,
rutsch nicht in ihre Weichen,
treib dich nicht selbst dir fern.

Unter dem Pflaster,
ja da liegt der Strand,
komm reiß auch du
ein paar Steine aus dem Sand.

Komm lass dir nicht erzählen,
was du zu lassen hast.
Du kannst doch selber wählen,
nur langsam, keine Hast.

Zieh‘ die Schuhe aus,
die schon so lang dich drücken.

Lieber barfuß lauf,

aber nicht auf ihren Krücken.

Gruppe Schneewittchen

 

 

Auch diese Bewegung differenzierte sich nach einiger Zeit aus.
Eine Menge Frauen fanden Gefallen daran, auf die Welt der Männer ganz zu verzichten, weil sie als Frauen eine ganz andere Welt für sich erobern könnten. Mit der “neuen Mütterlichkeit” z.B. bewegte sich aus meiner Sicht ein Teil unserer Frauen auf einem Umweg zurück an den Ausgang unseres Marsches. Sie fühlten sich gleich wertvoll wie die Männer, vielleicht sogar wertvoller, aber eben anders – und nicht interessiert daran, mit den Männern die Macht zu teilen. Sie besannen sich auf ihre geheimen und besonderen Kräfte als Frauen, schlossen Männer aus ihren Kreisen aus, machten aus der Weiblichkeit einen Mythos. Und landeten da, wo man mich schon als kleines Mädchen hatte hinkriegen wollen, bei den besonderen und von den Männern angeblich so hoch geachteten Werten und Eigenschaften – und Aufgaben – der Weiblichkeit, und bei der Bereitschaft, den harten und schnöden Kampf in der Welt doch lieber den Männern zu überlassen.
Der  andere Teil unserer Bewegung kämpfte sich tapfer hoch, durch die Reihen der Männer, an den Männern vorbei. Und wir wurden durchaus keine Blaustrümpfe dabei. Es krachte in den Balken der Gesellschaft:
Heute haben Frauen Positionen erobert, heute machen sie sehr viel mehr ihren Mund auf, sie verdienen ihr Geld selber, sie pochen auf ihre Gleichberechtigung, sie erlernen sogenannte männliche Berufe und manchmal bleibt sogar ein Vater nach der Geburt des Kindes zu Hause.

 

t_es_lebe_die_emanzipation_149.jpg


Ich will das nicht bestreiten und schmälern, obwohl dieser Prozess natürlich noch nicht abgeschlossen ist: noch heute sind die meisten Schulleiter Männer, noch heute werden Kliniken meistens von Männern geleitet, noch heute verdienen Frauen für gleiche Arbeit oft weniger, noch heute reden in allen Seminaren und in allen Gesprächsrunden Männer mehr und länger als Frauen, noch heute stürzen Männer ihre älter gewordenen Frauen in Lebenskrisen, weil sie meinen, sich mit 50 eine viel jüngere Frau leisten zu können. Und es werden auch heute noch immer Frauen geschlagen, bedroht, für dumm verkauft, sexuell belästigt und angemacht, – von den Männer, mit denen sie es zu tun haben und auch von unserer Gesellschaft selber, die insgeheim natürlich immer noch eine patriarchialische Gesellschaft ist. ….

Einer dritten Variante von Frauenemanzipation bin ich hier in den Neuen Bundesländern begegnet: Dadurch, dass die sozialistische Gesellschaft die Frauen als Werktätige achtete und einplante, ist hier noch immer sehr oft für Frauen klar, dass sie ihr Selbstbewusstsein und ihre Identität vor allem auch durch Arbeit erlangen. Gleichzeitig ist dieses weibliche Selbstverständnis ein abgeleitetes: die Frau erhielt ihren Wert, weil sie in der Gesellschaft an dem Teil des Lebens partizipierte, der traditionell den Männern vorbehalten war. Die Familie, der Haushalt, die Kinder, das war dennoch mehr oder weniger allein ihr Ding. Doppel- und Dreifachbelastungen wurden als normal hingenommen. Ein eigenes, auch gegen die Tradition der patriarchalischen Männergesellschaft (auch im Sozialismus) gerichtetes neues Selbstbewusstsein von Frauen fand ich kaum vor. Der Streit um die weibliche Endung z.B. bei Berufen wurde hier als lächerlich abgetan.  Die Frauen waren stolz darauf Baggerführer oder Lehrer zu sein.

Heute hat sich auch hier ein anderes weibliches Selbstbewusstsein in Grundzügen durchgesetzt. Und die alte gewohnte Selbstverständlichkeit, auch Arbeit und Beruf für sich haben zu wollen, ist noch immer ausgeprägter als im Westen. Und so mache ich mir um die Frage der Frauen zur Zeit weitaus weniger Sorgen als um die Frage der Menschenwürde, Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft und in der Welt.

Und dennoch: Nicht nur, weil die Geschlechtergleichberechtigung noch nicht überall und bei allen gegriffen hat, finde ich mich manchmal geradezu leidenschaftlich auf der Seite von Frauen. Es ist einfach das warme Gefühl der Solidarität unter Schwestern, das mich grundsätzlich parteilich auf ihre Seite stellt.
Den Männern bieten wir  Kooperation an, aber nicht Solidarität. Und mitunter lieben wir sie.

.

Veröffentlicht unter Frauen & andere Menschen | Schreib einen Kommentar

Die 68er, eine Geschichte, die man den Enkeln erzählen kann? – Unterm Strich – IV.

Demonstration 1968 vor dem Münsteraner Schloss (Unihauptgebäude)

Als ich vor Jahren bei einer Internetplattform nach meinem neuen Lebenspartner suchte, habe ich von mir geschrieben, ich sei eine 68erin und hätte diese Zeit weder vergessen noch verdrängt. Dieser Hinweis war wichtig.

Es ist 40 Jahre her. Überall wird davon zur Zeit gesprochen. Die Medien ereifern sich. Die Alt68er werden begütigend belächelt, sie werden als die Generation beschimpft, die mit ihrer angeblichen Gewaltbereitschaft und ihrem antiautoritärem Gehabe die nächste Generation versaut habe und schuldig sei an allen Problemen, die die Gesellschaft heute hat. Die 68er Jahre werden mystifiziert und glorifiziert, sie werden verdächtigt, verurteilt, verzerrt und verleumdet.
Es kommt mir so vor, als würden sich heute die an uns rächen wollen, die damals unter dem allgemeinen Gruppenzwang, links, revolutionär, aufrührerisch zu sein, gelitten haben und sich mit ihren schlichten Wünschen nach einer konservativen, „heilen“ und für sie unbeschwerten Welt damals um die nötige gesellschaftliche Anerkennung betrogen sahen.
Die heutige Wahrnehmung der 68er Generation in unseren Medien ärgert mich. Es steckt so viel Unwissen, soviel Unverstand aber auch so viel Hass darin.
Deshalb ist es für mich wichtig, etwas zu den 68ern zu sagen.

 


 

Es war natürlich die Zeit, in der ich jung war, in der mein Leben wirklich begann, in der ich anfingt, die Welt zu entdecken und mich und meine Kräfte dazu. Ein besonderes Zusammentreffen: mein erstes Studiensemester lag im Jahr 1968.
Benno Ohnesorge war erschossen worden. In Vietnam wurde noch immer gekämpft. Ich war 20 Jahre alt.
Was mir mit der 68er Bewegung da entgegen schlug, war für mich die ganz große Befreiung: alles stand auf dem Prüfstand, alles schrie danach, besser gemacht zu werden,  und wir trauten uns genau das zu. Wir ließen nicht nur unsere Kindheit und behütete Jugend hinter uns, sondern auch die Werte unserer Eltern, die Stimmung der Nachkriegszeit, die festgeschriebenen Regeln dazu, wie man zu leben, zu studieren, zu arbeiten und zu lieben hatte. Und dass man diesen Aufbruch als junge Frau genauso intensiv und genauso beteiligt aufgreifen konnte wie die männlichen Kommilitonen, machte die Freude und die Befreiung doppelt so groß!
Politisch war ich eher skeptisch und vorsichtig. Meine geistigen Ziehväter hatten Sartre, Camus, Borchert, Böll und Musil geheißen. Mich für eine Sache so eindeutig und emotional zu engagieren wie die linken MitstudentInnen, mit denen ich bei den Notstandskundgebungen zusammentraf, das wollte ich eigentlich nicht. Es war noch nicht lange her, dass ich mich in kleinen aber konsequenten Schritten aus einer erzreligiösen Katholikin in eine Existenzialistin verwandet hatte. Und ich war verdammt froh darüber.
Deshalb zögerte ich.
Aber allein in diesen Kreisen fand ich kluge, sympathische, lebendige Leute, die sich wie ich für Dichtung und Kunst interessierten, die nicht einfach nur schnell Karriere machen wollten, die wie ich vom Drang erfüllt waren, alles zu verändern und neu zu ordnen.
Als Christin hatte ich mich für Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Frieden und Toleranz engagiert und war dabei unmerklich zu einer Linken geworden. Genau das aber hat es mir dann sehr leicht gemacht, von der katholischen Riege meinen Abschied zu nehmen. Mit Brecht fragte ich eines Tages “Brauche ich einen Gott?” und verneinte diese Frage verblüfft und war frei.
Mit dieser Vorprägung dockte ich nun an die 68er Bewegung an, fand dort zunehmend meine Heimat, meine Freunde, meine Weltanschauung.
Eine gewisse autoritäre, beinahe religiöse Ausstrahlung der damaligen linken Bewegung, die sich mit meinen Bedürfnissen als frisch geschlüpfte Atheistin eigentlich nicht gerade deckte, spürte ich mit Unbehagen aber nahm sie in Kauf.

In den 68ern war es in, alles zu hinterfragen, alles erst einmal auf den Kopf zu stellen, neue Werte zu entwickeln, sich den alten zu verweigern, andere Dinge zu tun als die Generation davor, neue Musik zu hören und zu machen, über alles aber auch alles zu diskutieren, die verrücktesten Ideen zu entwickeln. Neue Formen des Zusammenlebens entstanden. Noch schüchtern meldeten sich auch die Frauen zu Wort. Kinder überließ man nicht mehr öffentlichen Institutionen, sondern versuchte neue Formen der Gemeinschaftserziehung zu entwickeln.
Natürlich waren wir auch nicht gerade sanftmütig. Unsere Aktionen und Proteste waren gegen die autoritären Kräfte gerichtet. Wir wollten uns wehren. Wir wollten unsere Stärke zeigen. Wir wollten auch den braven Bürgern ein wenig Angst machen. Aber ich sage, die 68er waren ein hoch moralischer Haufen. Es gab keine Gewalt gegen Menschen, schon gar keine sinnlose Gewalt. Es gab Gruppendruck. Das schon.Und wir genossen es, dass irgendwelche Studenten der BWL es nötig hatten, sich als links und fortschrittlich zu outen, weil sie sonst von unserer Menge ausgegrenzt und verlacht worden wären.
Gewalt, das war für uns Vietnam und dieses Beispiel galt uns allen als verhasst und Menschen verachtend.

 

 

Wir wollten andere Menschen nicht unterdrücken oder ihnen Gewalt antun. Wir wollten sie überzeugen.
Meine größte Gewalttat in diesen Zeiten war es, mit einer Gruppe von Leute den Zaun zum Vorgarten des Bischöflichen Palais nieder getreten und dort auf dem Rasen ein Lagerfeuer inszeniert zu haben. Vorne an der Straße stand unser Schild: “Wir vergesellschaften den Garten des Bischof. Friede den Hütten”, oder so ähnlich.
Tatsächlich kam dann die Polizei mit Schlagstöcken.

 

 

Politische Aktivitäten gab es vor allem im Hochschulpolitischen Bereich und in den Aktivitäten im Zusammenhang mit der Heimkritik. In manchen WGs lebte ein weggelaufener Heimzögling und wartete mehr oder weniger vergeblich auf ernsthafte Lebensunterstützung, bekam dafür die Haschpfeife gereicht und wurde mit Worten und Träumen von einer besseren Welt abgefunden.

In meiner Erinnerung gab es nur eine begrenzte Phase lang eine große, alle verbrüdernde Bewegung. Danach differenzierten sich Interessengruppen heraus. Es entstanden die verschiedenen politischen linken Gruppen, die die Gesellschaft verändern wollten, die in Richtung Sozialismus blickten und alle Varianten utopischer und realer Sozialismusmodelle für sich durchdeklinierten. Die Mitbestimmung in den Hochschulgremien war ein weiterer Schwerpunkt, der viele Komillitonen einband.
Ferner wurden im Rahmen der Studentenbewegung vor allem andere Lebens- und Zusammenlebenskulturen entwickelt und umgesetzt.(Eine WG zu gründen war damals eine revolutionäre Tat, heute ist sie ökonomischer Zwang und Normalstatus eines Studierenden.)
Für den größten Teil der Studentenschaft aber war die 68er Bewegung in erster Linie eine Art großes, befreiendes, belebendes Happening, das sich vor allem in der Musikkultur auslebte, bei Woodstock und bei der Hippy-Bewegung landete und alternative Lebensmodelle förderte.

Dann war das Studium aus und wir versuchten in der Welt Fuß zu fassen.
Für einen Teil folgte der lange Marsch durch die Institutionen, für andere kamen die Berufsverbote. Insgesamt aber, so schien es uns, machte die ganze Gesellschaft durch unsere Bewegung einen leichten Linksruck mit, wir hatten, so schien es uns, Erfolge zu verzeichnen. Wir glaubten, in dieser Welt nun als berufstätiger Erwachsener und als Familie wieder aufrecht leben zu können. Der Protest blieb natürlich trotzdem für Jahre ein Teil der Lebenskultur und war auch bitter nötig. Es folgten die großen Demonstrationen in Bonn, die Friedensbewegung, auf der ich dann schon mit meinen kleinen Kindern teilnahm, die AKW Bewegung, die ich nur noch von ferne mit ansah.
“Es hängt ne alte Klampfe an der Wand!”, sangen meine jugendbewegten Eltern nach dem Krieg. Für uns hingen irgendwann die Platten-Cover der Stones an der Wand und die Marx und Engels Bände, die bei jedem Umzug mitgeschleppt wurden, verschwanden irgendwann im Keller.

Abgesehen davon, dass ich noch keine Enkelkinder habe, es war schon kaum möglich, den eigenen Kindern zu vermitteln was damals los war. Für sie waren es sicher Geschichten von anno dazumal.
Vielleicht werden die Enkel oder die Urenkel wieder da anfangen, wo wir irgendwann aufgehört haben….

Was ist geblieben? Offenbar soviel, dass es den Medien und den Konservativen im Lande noch heute die Mühe wert ist, die 68er Generation zu verunglimpfen und für alles Mögliche, was danach kam, verantwortlich zu machen. Die RAF hatte sicher ihre Wurzeln in der 68Bewegung. Aber beide gleich zu setzen ist grundfalsch und ignorant. Genauso kann man sagen, die Frauenbewegung oder auch die Grünen hatten dort ihre Wurzeln – obwohl man davon mitunter nicht mehr viel merkt.

Aber es muss ganz klar gesagt werden, was dort keine Wurzeln hat:

die rechte Bewegung, die Neonazis, die zunehmende Gewalt in unserer Jugend, die Ziel- und Perspektivlosigkeit in der Jugend, der Niedergang der solidarischen Werte, die Zurücknahme der sozialen Absicherung und der politischen Zielsetzung einer Chancengleichheit…….

Das hat sich die Politik selber eingebrockt, indem sie sich in einem vermeintlichen Fortschrittsglauben an die Fersen der Wirtschaft und ihrer Allmacht geheftet hat.

“Wir brauchen wieder mal neue 68er”, seufzen die wenigen meiner Studenten, die sich nicht mit dem blinden und resignierten Hinterherhecheln hinter der neuen flexiblen und effizienten Lebensphilosophie begnügen wollen.

Ich hoffe, dass das nicht bis 2068 dauern wird.

.

Veröffentlicht unter Frauen & andere Menschen | Ein Kommentar

gewalt is up de straaten

Kurzgeschichte

Mechthild Seithe

gewalt35.jpg

Alltag: Gewalt in den Schulen

Von der anderen Seite der Kreuzung her kann jeden Moment ihr Bus auftauchen.
Sie sind ihr sofort aufgefallen. Ein ganzes Stück weiter vorne liefen sie quer über die stark befahrene Straße.
Im Gehen knüpft sie den Mantel zu. Es ist doch kühl geworden heute Nachmittag, kühler als sie gedacht hat. Die blasse Bläue des aufgerissenen Oktoberhimmels, der durch die Doppelglasscheiben des Büros so freundlich aussah, hat sie getäuscht. Im Bus wird es wieder warm sein, warm und eng. Sie hat es eilig, die Haltestelle zu erreichen.

Dennoch sind sie ihr gleich aufgefallen. Und jetzt, auf der anderen Straßenseite, stößt sie fast mit ihnen zusammen. Der Kleinste der Drei rempelt sie an. Er schwankt auf sie zu, stößt sie fast um, ohne, dass sie den Grund für sein Verhalten erkennen kann. Für eine Sekunde, länger, als es nötig wäre, sieht sie in seine Augen, sieht in etwas Dunkles und bleibt daran hängen. Sie sieht ein Gespenst. Jemand stürzt auf sie zu, die geöffneten Arme greifen nach ihr. So sieht kein Mensch entgegenkommende Passanten an. Solchen Blicken begegnet man nur in Albträumen! Trotzdem geht sie einfach weiter. Es ist besser, jetzt weiter zu gehen.

Jemand lacht.

weiterlesen

Veröffentlicht unter Leute & Geschichten | Schreib einen Kommentar

Ost-West-Heimat – Unterm Strich – III.

Heimatlose

Ich bin fast gestorben vor Schreck:
In dem Haus, wo ich zu Gast
war, im Versteck,
bewegte sich
plötzlich hinter einem Brett
in einem Kasten neben dem Klosett
ohne Beinchen, stumm, fremd und nett
ein Meerschweinchen.

Sah mich bange an, sah mich lange an.
Sann wohl hin und sann her,
wagte sich dann heran
und fragte mich:

„Wo ist das Meer?“

Ringelnatz

Auch das gehört zu meiner Bilanz:

Ich, von Geburt und danach Jahrzehnte lang Wessi , bin heute im Osten dieser Republik zu Hause und ich bin es gerne.
Irgendwann in der Mitte meines Lebens habe ich mich entschlossen, aus meiner Heimat im Westen in den Osten überzusiedeln.
Das ist jetzt 15 Jahre her.

Irgendwie war das Leben für mich im Westen eintönig und langweilig geworden. Der Wechsel versprach Abenteuer, Pionierarbeit, versprach, dass man noch einmal so richtig durcheinander geschüttelt werden würde, sein Leben würde neu sortieren müssen.
Und mich reizte die Chance, an dem größten soziologischen Experiment unserer Tage selber und unmittelbar teilzunehmen. Ich hatte Sympathie für die Bürger der ehemaligen DDR, glaubte ihnen helfen zu müssen dabei, sich in die neue Gesellschaftsordnung einzuleben, ohne darin unterzugehen.

Es war alles ganz anders.
Die ersten zwei Jahre entsprachen zwar in Etwa meinen Erwartungen. Alles war neu, aufregend, spannend. Dann kam so etwas wie ein Katzenjammer. Man war in den anderen Teil Deutschlands gegangen und dort in einer unglaublichen Fremde angekommen. Es hat Jahre gedauert, dass dieses mich permanent bedrückende Gefühl, in der Fremde zu sein, mich verließ und ich einfach nur da war, wo ich war, ohne alles in Ost und West aufzuteilen.
Ich vermisste in den ersten 5 Jahren meine westliche Heimat, ich vermisste das Selbstbewusste der Menschen, die Offenheit, mit der ich gewohnt war, dass alles ausgesprochen wurde, ich vermisste zu meiner eigenen Verwunderung auch den Komfort, die Bequemlichkeiten, den Reichtum, den Luxus, den Konsum und ich habe mich danach gesehnt, ihn verachten zu können ohne ihn entbehren zu müssen.
Mit den Menschen hier wurde ich selten warm. Sie verschlossen sich für mich in unerwarteten Momenten oder schlossen mich aus. Ich war zu direkt und doch irgendwie auch nicht direkt genug.
Viele Kollegen aus dem Westen sah ich nach 4, 5 Jahren die Segel streichen und zurück in die westliche Heimat gehen. Wenn ich in den Ferien oder auf Dienstreisen durch den Westen kam, atmete ich tief auf und fühlte mich mit einem mal frei, entspannt und gelassen, fand keineswegs alles gut und schön hier im Westen, konnte mich jedoch wieder sorgenfrei über so vieles mokieren oder aufregen, war einfach zu Hause.
Meine Illusion, dass mich hier im Osten irgendwer brauchen würde, war zerplatzt. Mir als Wessi schlugen vor allem Misstrauen und Vorbehalte entgegen. Ich machte eine Phase durch, wo ich mich innerlich ununterbrochen empörte über die Ossis, ihre langsame, gleichgültige Art z.B. bei der Bedienung in Geschäften, ihr vermeintliches Ungeschick, wenn es darum ging, etwas schön, angenehm, ansehnlich zu gestalten. Das Grau der Häuser, die Depressionen zerfallener Fabrikanlagen zogen mich runter. Vor allem eines aber machte mich wütend und empörte mich: die, wie mir schien, unglaublich naive Bereitschaft der Menschen, sich in unser kapitalistisches Gesellschaftssystem zu finden und sich ihm ganz und gar widerstandslos zu unterwerfen.

 

 

 

Und dann haben wir uns allmählich doch an einander gewöhnt.
Eine Urlaubsfahrt nach Neubrandenburg brachte den Durchbruch: Lange fragte ich mich, warum mir in Mecklenburg alles so heimatlich vorkam, obwohl damals in Mecklenburg noch vieles an die alte DDR erinnerte und es eigentlich nichts gab, was mir hätte bekannt vorkommen können. Bis ich begriff was es war: die Ebene, der Horizont, die Sprache, der Menschenschlag. Und ich entdeckte, dass es eben nicht nur Ost-West-Unterschiede gibt sondern ebenso Nord-Süd Unterschiede, die vielleicht für eine geborene Westfälin manchmal noch viel wichtiger sind. Ich versöhnte mich mit dem Osten weil er auch einen Norden hat.

Der Osten wurde so allmählich doch irgendwie ein Teil von mir.

 

wasche.jpg

m.s.

 

Wenn ich im Westen war, fehlte mir nun auf einmal ein Teil meines Lebens. Und dass im Westen niemand die neuen Bundesländer auch nur zur Kenntnis nahm, entfremdete mir die alte Heimat zusehends. Sie kamen mir nun hier alle blind, arrogant und ahnungslos vor und vor allem selbstgerecht.

Für den endgültigen  Umschwung war schließlich die Idee eines Kollegen verantwortlich, der mir in meiner Heimatlosigkeit eines Tages riet, in eine möglichst nahe Weststadt zu ziehen und nach Jena zu pendeln. Er macht das seit 15 Jahren: Jena – Bremen – Jena – Bremen …. Und es geht ihm dabei gut.
Ich ging die infrage kommenden westdeutschen Großstädte durch, die nicht mehr als 200 km entfernt waren: Nürnberg, Kassel? Und dann kam mir die entscheidende Idee: Berlin. In Berlin hatte ich den Westen und den Osten in einem und konnte meine West- und Ostsehnsüchte an einem Ort befriedigen. Ich entdeckte Berlin für mich und fühle mich da pudelwohl.
Immer mehr lernte ich dann auch den Nordosten der Neuen Bundesländer kennen und schätzen: hier spricht man wie in dem Land meiner Kindheit, hier ist der Horizont weit und die Welt flach und ohne Grenzen und hier habe ich so vieles lieben gelernt: die Brandenburger Seen, das Tal der Oder, Berlin, Potsdam, Rostock….
Ich genieße es, beide Seiten zu verstehen und wenn sich Ost- und Westdeutsche darüber streiten, ob denn nun die Nord- oder die Ostsee schöner sei, lächele ich in mich hinein und denke, dass ich beide Geheimnisse kenne und genießen kann.

Wenn ich heute alle 14 Tage nach meinem Wochenendaufenthalt in meinem neuen Zuhause Brandenburg wieder von der Autobahn zurück ins Thüringische Saaletal einbiege, bin ich  entzückt von dieser Gegend und dieser kleinen Großstadt – im Wissen, hier nicht alt werden zu müssen.

Ich bin also geblieben, zwar in Thüringen nie wirklich warm geworden aber doch inzwischen in Brandenburg  heimisch. Vielleicht bin ich jetzt eine Ossi geworden. Ich scheue im Westen heute wie ein Ossi den ganz großen Lärm, das ganz große Gedränge, die Show, die Schaumschlägerei.

Meine Freunde sind zwar fast alle nach wie vor Wessis. Inzwischen habe ich aber auch gute Bekannte im Osten und lebe sogar mit einem Ossi zusammen. Manchmal stimmt es mich traurig, dass ich mit meiner westlichen Sozialisation alleine bin in unserer Beziehung, dass meine Nostalgie ganz andere Töne anschlägt als seine.
Und wenn ich in ein Gespräch gerate, im dem sich ausschließlich Ossis über frühere Zeiten austauschen, fange ich immer noch an, mich einsam zu fühlen.

Dennoch, ich möchte nicht zurück. Es käme mir vor, als wollte ich weiterleben und dabei die Augen verschließen, oder als würde ich mir selber einen Arm abhacken.
Und allmählich versanden die Gräben. Die jungen Menschen sind nur mehr schwer als Ossis oder Wessis zu identifizieren. Wenn ich mich als Wessi oute, sehe ich immer seltener jenes leise “Aha” in den Augen der anderen, bei dem die Türen zuschlagen. Die Situation bleibt jetzt offen. Die Menschen um mich haben an Selbstbewusstsein zugelegt. Das bringt mich ins Gleichgewicht mit ihnen.

Und nun besiegelt mein Ossi-Schicksal auch noch der schnöde Mammon: Ich habe immer lautstark Solidarität mit den Menschen im Osten bekundet, die deutlich weniger Geld für ihre Arbeit kriegen, obwohl der Lebensstandard hier nicht anders ist und die Lebenshaltungskosten sich längst nichts mehr tun. Aber ich hatte auch gut lachen: Ich wurde hier immer als Wessi bezahlt. Dieses Privileg habe ich 15 Jahre lang in Anspruch genommen. Und  jetzt stellt sich heraus, meine Rente wird eine Ost-Rente sein.
Hoppla, sowas verbindet uns dann erst richtig!

.

 

Veröffentlicht unter Leute & Geschichten | Schreib einen Kommentar